Das Gericht kann auch ohne Behauptungen der Parteien Tatsachen berücksichtigen, die gerichtsnotorisch sind (Art. 151 ZPO; BGer 4A_180/2017 vom 31.10.2017 E. 4.3). Nun ist das, was in der Hauptklage behauptet wird, im Widerklageverfahren gerichtsnotorisch. Es ist daher nicht unhaltbar, bei der Prüfung der Widerklage auch die Tatsachen zu berücksichtigen, die sich aus der Hauptklage ergeben.
2024-N5 Das Heranziehen einer Behauptung von Amtes wegen als gerichtsnotorische Tatsache im (Widerklage-)Verfahren
Bem. F. Bastons Bulletti
1 In einem Prozess auf Herausgabe von Gesellschaftsanteilen und Rechnungslegung erhebt die beklagte Beauftragte eine Widerklage auf Bezahlung ihrer Leistungen. Die Hauptklage wird gutgeheissen; die Widerklage wird mangels Beweises der erbrachten Leistungen abgewiesen. In ihrer Berufung macht die Widerklägerin geltend, der Widerbeklagte habe ihre Behauptungen nicht ausreichend bestritten, sodass sie die Beweislast nicht trage. Das Berufungsgericht stellt fest, dass sich der Widerbeklagte in seiner Hauptklage über Pflichtverletzungen der Beauftragten – insb. in Bezug auf die Rechenschaftspflicht – beschwert hat, und weist die Berufung ab. Die Beauftragte reicht – in Anbetracht des Streitwerts – eine subsidiäre Verfassungsbeschwerde beim BGer ein, das den angefochtenen Entscheid unter dem Gesichtspunkt der Willkür bestätigt.
2 Gegenstand des Beweises sind nur streitige Tatsachen (Art. 150 Abs. 1 ZPO). Entscheidend ist daher im vorliegenden Fall, ob die Behauptungen der Widerklage (hinreichend) bestritten worden sind (zum Umfang der Bestreitungslast vgl. Anm. unter Art. 222 Abs. 2, B.). Ist dies nicht der Fall, so sind diese Behauptungen in einem von der Verhandlungsmaxime beherrschten Prozess grundsätzlich als nachgewiesen zu betrachten, unter Vorbehalt von Art. 153 Abs. 2 ZPO. Aus dem Urteil geht implizit hervor, dass die Widerklageantwort an sich offenbar keine ausreichende Bestreitung enthielt, da das kantonale Gericht diese Bestreitung anschliessend aus den bereits in der Hauptklage vorgebrachten Behauptungen abgeleitet hat. Es stellte sich nun die Frage, ob Behauptungen aus der Hauptklage im Widerklageverfahren, in dem sie nicht vorgebracht worden sind, berücksichtigt werden können.
3 Haupt- und Widerklage werden im selben Prozess beurteilt, stellen aber dennoch zwei unabhängige Klagen dar (vgl. Anm. unter Art. 224, A.). So kann die Widerklage in einem separaten Verfahren beurteilt werden, wenn dies aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung oder -ökonomie geboten ist (Art. 125 lit. d ZPO). Ebenso bleibt die Widerklage bestehen, wenn die Hauptklage zurückgezogen oder für unzulässig erklärt wird (TC/FR vom 24.1.2024 [101 2023 145] E. 2.2, Anm. unter Art. 224, C.b.). Daraus folgt, dass die Behauptungen, die in einem der Verfahren aufgestellt wurden, nicht als formell im anderen Verfahren vorgebracht angesehen werden können.
4 Wie das BGer jedoch festhält, sind die in der Hauptklage vorgebrachten Behauptungen dem Gericht, das die Widerklage behandelt, notorisch bekannt. Nun können notorische oder gerichtsnotorische Tatsachen auch dann berücksichtigt werden, wenn sie im laufenden Prozess nicht geltend gemacht wurden (vgl. Anm. unter Art. 151 Abs. 2, insb. BGer 5A_61/2023 vom 7.2.2024 E. 4 in Bezug auf gerichtsnotorische Tatsachen). So kann z.B. der Richter von sich aus das Ergebnis der Beweisaufnahme in einem früheren Verfahren zwischen denselben Parteien, etwa in diesem Verfahren vorgelegte Urkunden, in den Prozess einbringen (BGer 4A_180/2017 vom 31.10.2017 E. 4.3; BGer 4A_37/2014 vom 27.6.2014 E. 2.4.1, Anm. unter Art. 151, 2.).
5 Die hier gegebene Lösung überzeugt. Auch wenn die Verhandlungsmaxime den Parteien die Verantwortung dafür überträgt, die für den Prozess notwendigen Tatsachen und Beweismittel vorzutragen (Art. 55 Abs. 1 ZPO), und auch wenn die Berücksichtigung von notorischen Tatsachen mit Zurückhaltung zuzulassen ist (vgl. den jüngsten BGer 4A_639/2023* vom 3.4.2024 E. 2.3–2.5, zur Veröffentlichung bestimmt, oben), muss der Richter Behauptungen berücksichtigen können, die vor ihm in früheren oder parallelen Verfahren zwischen den gleichen Parteien vorgebracht wurden, da es sich dabei um Tatsachen handelt, von denen er durch seine amtliche Tätigkeit Kenntnis erlangt hat, also um Tatsachen, die ihm notorisch bekannt sind (vgl. Anm. unter Art. 151, 2., insb. BGer 5A_774/2017 vom 12.2.2018 E. 4.1.1).
6 Die gegebene Lösung führt jedoch zu einigen Anmerkungen:
6a – Da eine gerichtsnotorische Tatsache keines Beweises bedarf (Art. 151 ZPO), setzt ihr notorischer Charakter voraus, dass die fragliche Tatsache bereits feststeht (vgl. KuKo ZPO-Baumgartner Art. 151 N 6 f.). Auch wenn dies im Urteil nicht näher ausgeführt wird, scheint somit im vorliegenden Fall die gerichtsnotorische Tatsache, die von Amtes wegen berücksichtigt wird, das eigentliche Vorliegen einer Behauptung zu sein. Die behauptete Tatsache selbst (i.c. die Pflichtverletzungen der Bevollmächtigten, oben N 1) ist nicht automatisch notorisch bekannt – es sei denn, sie würde seinerseits eine gerichtsnotorische Tatsache darstellen, d.h. bereits feststehen (vgl. N 6b). Daraus folgt, dass diese Tatsache, wenn sie bestritten wird, noch bewiesen werden muss (Art. 151 ZPO e contrario).
6b – Es ist fraglich, ob die im vorangegangenen Verfahren behauptete Tatsache als gerichtsnotorisch angesehen werden kann, wenn – wie im vorliegenden Fall – das Vorliegen dieser Tatsache bereits in einem rechtskräftigen Urteil festgestellt wurde, das gegebenenfalls von demselben Gericht erlassen wurde (im vorliegenden Fall im Haupturteil, das mangels Berufung rechtskräftig geworden ist). Dies ist zu bejahen, wenn diese Tatsache im Dispositiv des Entscheids festgestellt wurde, wobei das Gericht an diese Feststellung gebunden ist (Bindungswirkung der materiellen Rechtskraft, vgl. Anm. unter Art. 59 Abs. 2 lit. e, 3., insb. BGE 139 III 126 E. 3.1). Dagegen hat eine in der Urteilsbegründung getroffene Feststellung keine Bindungswirkung in einem anderen Prozess (vgl. Anm. ibid., insb. BGE 148 III 371 E. 5.3). Daher kann der Richter, der die Behauptung von Amtes wegen im laufenden Prozess heranzieht, die behauptete Tatsache nicht als gerichtsnotorisch betrachten. Er muss darüber noch Beweis erheben, wenn sie bestritten wird (Art. 150 Abs. 1 ZPO), und dann über ihr Bestehen entscheiden. Gegenteiliges anzunehmen, würde bedeuten, diese Tatsache ohne Grund von der Beweispflicht zu befreien (Art. 151 ZPO) und die Wirkung der materiellen Rechtskraft des vorherigen Entscheids zu Unrecht auszudehnen. Wie dem auch sei: Im vorliegenden Fall war die Beweisabnahme für die Behauptungen in der Hauptklage überflüssig: Soweit das Gericht diese Behauptungen berücksichtigte und daraus ableitete, dass die in der Widerklage behaupteten rechtsbegründenden Tatsachen bestritten und daher zu beweisen waren, lag die Beweislast für die bestrittenen Tatsachen bei der Widerklägerin und nicht bei ihrer Gegenpartei. Da das Gericht nun der Ansicht war, die Bevollmächtigte habe diesen Beweis nicht erbracht, brauchte es nur festzustellen, dass sie dessen Scheitern zu tragen hatte (Art. 8 ZGB). Unter diesen Umständen war unerheblich, ob der Widerbeklagte den Beweis für seine eigenen Behauptungen erbracht hatte oder nicht.
6c – Grundsätzlich ist das Gericht nicht verpflichtet, die Parteien zu den von ihm berücksichtigten notorischen Tatsachen anhören (vgl. Anm. unter Art. 151, 2., insb. BGE 149 I 91 E. 3.4; auch BGer 4A_385/2021 vom 13.1.2022 E. 6.5, in dem das BGer unter besonderen Umständen einen Anspruch auf rechtliches Gehör bejahte, wenn das Abstellen auf notorische Tatsachen die Gegenpartei unvorbereitet treffen würde). Anders verhält es sich jedoch, wenn das Gericht gerichtsnotorische Tatsachen in den Prozess einführt, die aber nicht notwendigerweise allen Parteien bekannt sind und die keine von ihnen im hängigen Prozess vorgebracht hat. Es ist anerkannt, dass das Gericht diesfalls der Gegenpartei noch Gelegenheit zur Stellungnahme geben muss (vgl. PC CPC-Chabloz/Copt Art. 151 N 10 und 19; KuKo ZPO-Baumgartner Art. 151 N 5 und N 10; in diesem Sinn auch BGer 4A_37/2014 vom 27.6.2014 E. 2.4.1, Anm. unter Art. 151, 1.b.). Im vorliegenden Fall, in dem Haupt- und Widerklage offensichtlich in materiellem Zusammenhang und in zeitlicher Nähe zueinander standen, konnte das Gericht zweifellos erwägen, dass die Widerklägerin zwangsläufig von den Behauptungen in Bezug auf ihre Vertragsverletzungen Kenntnis gehabt hatte und sich jedenfalls in ihrer Hauptklageantwort bereits hatte äussern können. Zudem war diese Klageantwort ebenfalls gerichtsnotorisch, sodass das Gericht gegebenenfalls auch die diesbezüglichen Behauptungen und Beweisangebote des Beklagten berücksichtigen konnte.
6d – Die hier gegebene Lösung gilt u.E. auch dann, wenn das Hauptverfahren ohne Entscheid in der Sache beendet wurde: Damit die Behauptung im Widerklageverfahren berücksichtigt werden kann, ist allein den Umstand von Bedeutung, dass sie vorgebracht wurde, und nicht, ob ein Urteil ergangen ist oder nicht. Wurde also das Hauptverfahren aufgrund der Nichtbezahlung des Kostenvorschusses für unzulässig erklärt (Art. 101 Abs. 3 ZPO), kann das Gericht im Widerklageverfahren ungeachtet der Novenregelung (vgl. BGer 5A_610/2016 vom 3.5.2017 E. 3.1, Anm. unter Art. 151, 2.) dennoch Behauptungen des Hauptklägers, der keine (ausreichende) Widerklageantwort eingereicht hat, als gerichtsnotorische Tatsachen berücksichtigen (Frage im Urteil TC/FR vom 24.1.2024 (101 2023 145) E. 2.2 offen gelassen, s. Anm. unter Art. 224, C.b.). Selbstverständlich geht es auch hier darum, die Behauptungen in der Hauptklage von Amtes wegen zu berücksichtigen, sofern sie einen Zusammenhang mit den Behauptungen in der Widerklage aufweisen, nicht aber darum, die so behaupteten Tatsachen als notorisch und somit nicht beweisbedürftig aufzufassen (N 6a-6b).
7 Die Berücksichtigung gerichtsnotorischer Tatsachen durch den Richter kann zwar als eine Milderung der Verhandlungsmaxime angesehen werden, die für eine nachlässige Partei, die es versäumt hat, eine Tatsache zu behaupten oder zu bestreiten, besonders günstig und für die Gegenpartei, die dennoch den Beweis für diese Tatsache erbringen und andernfalls die Folgen der Beweislosigkeit tragen muss, besonders ungünstig ist. Es ist jedoch einerseits zu betonen, dass der Richter ebenso gut Art. 153 Abs. 2 ZPO anwenden und den Beweis für die nicht streitigen Tatsachen der Widerklage von Amtes wegen erheben könnte, wenn mit Blick auf die Behauptungen in der Hauptklage erhebliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Tatsachen bestehen (vgl. BGer 4A_196/2021 vom 2.9.2022 E. 3.4.1, Anm. unter Art. 143 Abs. 2 und in Newsletter 2023-N2). Andererseits wird der Begriff der notorischen Tatsache eng ausgelegt, wie die jüngste Rechtsprechung zeigt (vgl. BGer 4A_639/2023* vom 3.4.2024 E. 2.3–2.5, Zusammenfassung oben; auch BGE 149 I 91 E. 3.4; BGE 143 IV 380 E. 1.2 und 1.3.2, Anm. unter Art. 151, 1.a.b.a.), und Gleiches gilt für den Begriff der gerichtsnotorischen Tatsachen (vgl. Anm. unter Art. 151, 2.), sodass dieser in der Praxis nur eine geringe Rolle spielen kann. Schliesslich besteht der Zweck der Verhandlungsmaxime nicht darin, den Prozessparteien Hindernisse in den Weg zu legen, sondern den Richter nicht damit zu belasten, in alle Richtungen nach Tatsachen zu forschen, die den Parteien von vornherein bekannt sind und die sie ihm beibringen können. Diesem Ziel steht es keineswegs entgegen, wenn der Richter auf Tatsachen abstellt, die er nicht erforscht hat, sondern die ihm bereits bekannt sind.
Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2024-N5, Rz…