Die Identität von Streitgegenständen beurteilt sich nach zwei Kriterien: den Klageanträgen einerseits und dem behaupteten Lebenssachverhalt andererseits (BGE 144 III 452 E. 2.3.2; BGer 4A_525/2021 vom 28.4.2022, nicht zur Publ. vorgesehene E. 3.3; je m.w.H.). Sie ist zu verneinen, wenn zwar aus demselben Rechtsgrund wie im Vorprozess geklagt wird, aber neue erhebliche Tatsachen geltend gemacht werden, die seitdem eingetreten sind und den Anspruch in der nunmehr eingeklagten Form erst entstehen liessen (BGE 145 III 143 E. 5.1; 140 III 278 E. 3.3; 139 III 126 E. 3.2.1 m.w.H.). (E. 2.6) Wohl ist die Identität der Klagebegehren nicht grammatikalisch, sondern inhaltlich zu verstehen (BGE 142 III 210 E. 2.1; 139 III 126 E. 3.2.3; BGer 4A_525/2021 vom 28.4.2022, nicht zur Publ. vorgesehene E. 3.3). Äussert sich das Urteilsdispositiv des Erstverfahrens demgegenüber zu einer Frage, die sich bei der Beurteilung des im Zweitverfahren geltend gemachten Anspruchs lediglich als Vorfrage stellt, liegt kein Fall der Ausschlusswirkung vor, sondern der Präjudizialitäts- bzw. Bindungswirkung. Dementsprechend ist die zweite Klage zulässig, aber das im Erstverfahren ergangene Urteil der materiellen Beurteilung des Gerichts zugrundezulegen (s. etwa BGE 145 III 143 E. 5.3). Im vorliegenden Fall verlangt die Vermieterin heute die Verurteilung der Mieterin zur Bezahlung eines Geldbetrages, nachdem sie im Erstverfahren noch die Anpassung des Mietzinses verlangt hatte. Die fraglichen Klagebegehren unterscheiden sich nicht bloss in grammatikalischer Hinsicht; vielmehr sind sie inhaltlich nicht deckungsgleich. Die zum Gegenstand des Zweitverfahrens gemachte Geldforderung beruht auf der weiteren Nutzung der Mietobjekte durch die Mieterin und damit auf neuen Tatsachen, die ausserhalb der zeitlichen Grenzen der materiellen Rechtskraft des Erstverfahrens liegen. Dass die Klägerin mit ihren Anträgen im Erstverfahren und demjenigen im Zweitverfahren letztlich dasselbe Ziel verfolgt haben bzw. verfolgen mag, nämlich, den Mietzins für die Dauer des Verbleibs der Mieterin in den Mietobjekten bis zur vollständigen Rückgabe auf ein den üblichen Verhältnissen entsprechendes Niveau zu erhöhen, ändert daran nichts. (E. 2.7) Ein schutzwürdiges Interesse i.S.v. Art. 59 Abs. 2 lit. a ZPO an der Klage kann nicht mit dem Argument verneint werden, dass auch die Leistungsklage am Ende des Verfahrens abzuweisen sein werde, da diese auf der Erhöhung des Mietzinses aufbaue und sich einzig darauf abstütze. Denn damit liesse sich doch bei jeder nach materieller Anspruchsprüfung abzuweisenden Klage ein Nichteintretensentscheid begründen. Ob der mit der Klage geltend gemachte Anspruch gegeben ist, betrifft aber die Frage ihrer Begründetheit und ist im Sachurteil und nicht im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung zu entscheiden. Dementsprechend kann und muss im vorliegenden Stadium nicht beurteilt werden, ob der im Erstverfahren erfolgte Rückzug des Begehrens der Vermieterin um Anpassung des Mietzinses im Zweitverfahren Präjudizialitäts- bzw. Bindungswirkung entfaltet.
2023-N3 Die Auswirkungen der materiellen Rechtskraft auf die Zulässigkeit bzw. Begründetheit einer späteren Klage
Bem. F. Bastons Bulletti
1 Die Parteien eines Mietvertrags von Geschäftsräumen streiten sich in verschiedenen Prozessen über die Fortführung dieses Verhältnisses über den 1. Februar 2014 hinaus. Die Mieterin reicht u.a. eine Klage auf Erstreckung des Mietverhältnisses ein. In diesem Verfahren verlangt die Vermieterin unabhängig von einer allfälligen Erstreckung eine Anpassung (Erhöhung) der Mietzinse ab dem 1. Februar 2014 bis zum Zeitpunkt der vollständigen Rückgabe der Räumlichkeiten; später zieht sie dieses Rechtsbegehren zurück, nachdem dieses der Mieterin zugestellt wurde. Das angerufene Mietgericht erklärt die Hauptklage für unzulässig mit der Begründung, die Mieterin verfüge nach wie vor über einen vertraglichen Anspruch auf Nutzung des Mietobjekts. Das von der Vermieterin eingeleitete Berufungsverfahren wird schliesslich abgeschrieben, da die Mieterin die Mietobjekte verlassen hat. Etwa ein Jahr später reicht die Vermieterin vor dem Handelsgericht eine Klage gegen ihre ehemalige Mieterin auf Zahlung eines Betrags ein, der dem zuvor verlangten zusätzlichen Mietzins für den Zeitraum zwischen dem 1. Februar 2014 und dem tatsächlichen Auszug der Mieterin am 20. Februar 2020 nahezu entspricht. Die Mieterin wendet die sachliche Unzuständigkeit des Gerichts sowie die abgeurteilte Sache ein. Das Handelsgericht prüft zunächst, ob eine abgeurteilte Sache vorliegt, und erklärt die Klage für unzulässig, ohne über seine sachliche Zuständigkeit zu entscheiden. Die ehemalige Vermieterin reicht erfolgreich Beschwerde beim BGer ein; dieses hält fest, dass der Streitgegenstand nicht mit jenem im mietgerichtlichen Verfahren identisch ist.
2 Der Begriff des Streitgegenstands ist im Zivilprozessrecht von zentraler Bedeutung, insb. für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Klage: Ist der Streitgegenstand mit dem in einem früheren Prozess rechtskräftig entschiedenen Streitgegenstand identisch, ist die Klage unzulässig (Art. 59 Abs. 2 lit. e ZPO). Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung bestimmt sich der Streitgegenstand nach den Klageanträgen und dem behaupteten Lebenssachverhalt, auf den sich die Klagebegehren stützen (vgl. Ziff. 2.4.2 des Urteils m.H.; auch Anm. unter Art. 59 Abs. 2 lit. e, 4.a.). Diese beiden kumulativen Kriterien sind somit entscheidend, wenn es darum geht, zu beurteilen, ob Streitgegenstände identisch sind oder nicht. Bei der Prüfung dieser Kriterien im vorliegenden, in einer Fünferbesetzung gefällten Urteil sah sich das BGer veranlasst, einerseits sein enges Konzept des Streitgegenstands und damit der materiellen Rechtskraft zu bestätigen (vgl. auch BGE 148 III 371 E. 5.1-5.2 [n.v.] und E. 5.3, Anm. unter Art. 59 Abs. 2 lit. e, 3. und 4.a. und in Newsletter 2022-N14, Nr. 7) und andererseits die Auswirkungen der materiellen Rechtskraft auf die Zulässigkeit bzw. Begründetheit einer neuen Klage hervorzuheben.
3 In Bezug auf das erste Kriterium ist anerkannt, dass Rechtsbegehren mit jenen in einer früheren Klage dann identisch sind, wenn ihr Inhalt – und nicht notwendigerweise ihr Wortlaut – identisch ist, so etwa wenn in der zweiten Klage nur noch ein Teilbetrag der im ersten Verfahren rechtskräftig beurteilten Klage geltend gemacht wird, oder wenn nach der rechtskräftigen Erledigung einer (positiven) Feststellungsklage eine negative Feststellungsklage mit umgekehrter Stossrichtung geführt wird (vgl. Anm. unter Art. 59 Abs. 2 lit. e, 4.a., insb. BGE 128 III 284 E. 3b). Wie das BGer im vorliegenden Urteil betont, genügt es hingegen nicht, dass der Kläger dasselbe Ziel wie im ersten Prozess verfolgt. So hat das BGer z.B. kürzlich bestätigt, dass eine auf Schweizer Franken lautende Forderungsklage nicht den gleichen Streitgegenstand betrifft wie eine auf Euro lautende Forderungsklage, auch wenn es sich letztlich um denselben, lediglich umgerechneten Betrag handelt und sich der Lebenssachverhalt, auf den sich beide Klagen stützen, nur in Bezug auf die Währung der Schulden unterscheidet (BGer 4A_298/2021* vom 8.11.2022 E. 5.2, Anm. ibid.; auch CJ/GE vom 15.1.2019 (ACJC/49/2019) E. 2.2, ibid.).
4 Die Rechtslage war im vorliegenden Fall nicht viel anders: Die Vermieterin wollte zwar letztlich das Gleiche erreichen wie im ersten Prozess, nämlich die Zahlung eines erhöhten Mietzinses in ähnlichem Umfang und für denselben Zeitraum. In ihrem vorherigen, zurückgezogenen Rechtsbegehren hatte sie jedoch die Anpassung des Mietzinses, d.h. die Festsetzung eines erhöhten Mietzinses, bis zur vollständigen und zukünftigen Rückgabe des Mietobjektes verlangt. In der vorliegenden, nach dem Auszug der Mieterin eingereichten Klage verlangte sie hingegen die Zahlung eines Betrags, der der Differenz zwischen den gezahlten Mietzinsen und jenem Mietzins entsprach, den sie rückblickend bis zum Zeitpunkt der Rückgabe der Räumlichkeiten durch die Mieterin als geschuldet erachtete. Das BGer kommt daher zum Schluss, dass die Klageanträge – auch inhaltlich – nicht identisch sind. Ein weiteres Element, das in der gleichen Erwägung erwähnt wird, bestätigt dieses Ergebnis: Die Verurteilung zur Zahlung setzte voraus, dass der Richter anerkennt, dass die Mietzinsanpassung gerechtfertigt war. Somit wurde die Frage, die im ersten Verfahren als Hauptfrage gestellt worden war, auch im zweiten Verfahren gestellt, allerdings nur als Vorfrage. Nun setzt aber die Identität des Streitgegenstands i.S.v. Art. 59 Abs. 2 lit. e ZPO identische Klageanträge voraus, d.h. die inhaltliche Identität der Fragen, die dem Gericht als Hauptfragen unterbreitet werden. Dies war im vorliegenden Fall nicht der Fall, sodass die Klage zulässig war.
5 Der Umstand, dass der Kläger dem Gericht dieselbe Frage, wenn auch auf eine andere Weise, in zwei aufeinanderfolgenden Verfahren stellt, ist zwar nicht folgenlos. Er hat jedoch keinen Einfluss auf die Zulässigkeit der Klage, sondern allenfalls auf deren Begründetheit. Darauf werden wir noch ausführlich eingehen (vgl. unten N 8 – 10).
6 In Bezug auf die zweite Komponente des Streitgegenstands, nämlich den Lebenssachverhalt, auf den sich das Rechtsbegehren stützt, wird in der Rechtsprechung festgehalten, dass dieser alle Tatsachen und Beweismittel – ob im Prozess vorgebracht oder nicht, bekannt oder unbekannt – umfasst, die sich in natürlicher Weise auf den dem Richter unterbreiteten Anspruch beziehen und die vor dem Zeitpunkt existierten, in dem sie im ersten Prozess zum letzten Mal vorgebracht werden konnten (vgl. Anm. unter Art. 59 Abs. 2 lit. e, 4.a., insb. BGE 144 III 452 E. 2.3.2; BGE 145 III 143 E. 5.1). Neue Tatsachen, die nach diesem Zeitpunkt entstanden sind, d.h. echte Noven, gehören hingegen nicht zu diesem Lebenssachverhalt und können nicht an der materiellen Rechtskraft des Urteils teilhaben, da das Gericht sie im ersten Prozess nicht prüfen konnte. Wenn sie relevant sind, können sie somit eine neue Klage begründen: Selbst wenn die Rechtsbegehren in der neuen Klage inhaltlich mit jenen im ersten Prozess identisch sind, beruhen sie nicht mehr auf demselben Lebenssachverhalt, sodass der Streitgegenstand nicht mit dem ersten identisch ist (vgl. Anm. ibid., insb. BGE 139 III 126 E. 3.1; BGE 142 III 413 E. 2.2.6). Im vorliegenden Fall hält das Bundesgericht fest, dass der zur Begründung der neuen Klage behauptete Lebenssachverhalt nicht mit dem vorherigen identisch ist, da die Klage auf der weiteren Nutzung der Mietobjekte durch die Mieterin beruht, die die nunmehr eingeklagte Zahlung begründet. Es scheint uns insofern nicht unbestreitbar, dass es sich dabei um eine neue Tatsache handelt, als die erste Klage ebenfalls auf der – zwar damals zukünftigen – weiteren Nutzung der Räumlichkeiten bis zum Auszug der Mieterin beruhte. Einzig der Zeitpunkt des Auszugs der Mieterin, der nun bekannt ist, stellt eine neue Tatsache dar und ermöglicht die Berechnung des behaupteten Betrags, der dem zusätzlichen Mietzins bis zu diesem Zeitpunkt entspricht. Wie dem auch sei: Da die Klageanträge nicht identisch sind (vgl. oben N 4), ist auch der Streitgegenstand nicht identisch (vgl. oben N 2), sodass die Zulässigkeit der Klage unabhängig von einer Änderung des rechtserheblichen Lebenssachverhalts zu bejahen war.
7 Im Urteil wird auch eine weitere Prozessvoraussetzung geprüft, deren Erfüllung die Vorinstanz verneinte. Das Handelsgericht ging davon aus, die Klägerin hätte kein Rechtsschutzinteresse i.S.v. Art. 59 Abs. 2 lit. a ZPO, da ihre Klage – selbst wenn der Streitgegenstand nicht mit dem vorherigen identisch sein sollte – von vornherein abzuweisen wäre, da sie die Mietzinserhöhung voraussetzen würde, der die Bindungswirkung ihres vorherigen Klagerückzugs entgegenstünde (im Einzelnen vgl. unten, N 10). Das BGer betont, dass die (selbst offensichtliche) Unbegründetheit einer Klage nicht die Unzulässigkeit mangels Rechtsschutzinteresse, sondern die Abweisung in der Sache zur Folge hat.
8 Da die Klage somit zulässig ist, wird das Handelsgericht – vorbehältlich seiner umstrittenen sachlichen Zuständigkeit, die es nicht geprüft hat – die Prüfung in der Sache vornehmen müssen. Da die Klägerin ihren Anspruch auf Zahlung ausschliesslich auf die Mietzinserhöhung stützt, die sie im ersten Prozess verlangt hatte, wird das Gericht vorfrageweise (vgl. oben N 4) zu klären haben, ob diese Anpassung begründet ist oder nicht.
9 Hätte das Gericht im ersten Prozess über die Frage der Erhöhung entschieden, würde sein Entscheid die Antwort auf diese Vorfrage vorschreiben. Denn diese Frage stellte sich im ersten Verfahren als Hauptfrage, sodass der diesbezügliche, im Dispositiv enthaltene Entscheid materielle Rechtskraft hätte. Nun zeitigt die materielle Rechtskraft eines Entscheids nicht nur die in Art. 59 Abs. 2 lit. e ZPO gemeinte negative Wirkung bzw. Ausschlusswirkung, welche die Zulässigkeit einer neuen, identischen Klage berührt (ne bis in idem; vgl. oben N 2-4). In einem Prozess, der einen anderen Streitgegenstand betrifft – sodass die Klage zulässig ist –, entfaltet sie eine positive, sog. präjudizielle Wirkung oder Bindungswirkung (ne aliter in idem; vgl. Anm. unter Art. 59 Abs. 2 lit. e, 3.), die für die Begründetheit dieser neuen Klage in dem Sinn entscheidend sein kann, dass die Antwort, die auf eine Hauptfrage im Dispositiv eines rechtskräftigen Entscheids gegeben wird, nicht mehr in Frage gestellt werden kann und daher für das Gericht verbindlich ist, das in einem anderen Verfahren mit derselben Frage vorfrageweise befasst wird (vgl. Anm. unter Art. 59 Abs. 2 lit. e, 3., z.B. BGE 139 III 126 E. 3.1). Hätte also das Gericht im ersten Prozess über das Rechtsbegehren der Vermieterin auf Anpassung des Mietzinses entschieden und dieses abgewiesen, könnte das an diesen Entscheid gebundene Handelsgericht nur feststellen, dass die Anpassung des Mietzinses unbegründet ist, und müsste folglich die auf diese Anpassung gestützte Forderungsklage abweisen. Aus diesem Grund ging das Handelsgericht im vorliegenden Fall mit Blick auf den Klagerückzug im vorangegangenen Prozess davon aus, dass die neue Klage, selbst wenn sie sich auf einen anderen Streitgegenstand beziehen würde, ohnehin aussichtslos wäre, und folgerte daraus (zu Unrecht, vgl. oben N 7), dass die Klägerin kein Rechtsschutzinteresse hätte.
10 Im vorliegenden Fall hat das Gericht im ersten Prozess jedoch nicht über die Klage der Vermieterin auf Mietzinserhöhung entschieden, da diese die Klage zurückgezogen hatte. Da dieser Rückzug nach der Zustellung der Klage an die Mieterin erfolgte, stellt er einen Klagerückzug i.S.v. Art. 65 und 241 ZPO dar. Gemäss Art. 65 ZPO verbietet ein Klagerückzug, gegen die gleiche Partei über den gleichen Streitgegenstand erneut Klage einzureichen (dieses Verbot wurde hier eingehalten, da die zweite eingereichte Klage eben nicht denselben Gegenstand betraf, vgl. oben N 4). Gemäss Art. 241 ZPO beendet er den Prozess direkt und hat die Wirkung eines rechtskräftigen Entscheids (Abs. 2). In seiner Rechtsprechung ist das BGer zunächst davon ausgegangen, dass ein Klagerückzug einer Abweisung der Klage gleichzustellen ist (BGE 141 III 376 E. 3.4, Anm. unter Art. 65, B.), was im vorliegenden Fall bedeuten würde, dass im zweiten Prozess vorfrageweise festzustellen wäre, dass die Mietzinsanpassung unbegründet ist. Das Handelsgericht ist offensichtlich dieser Meinung, da es die Klage als auf jeden Fall aussichtslos erachtete (oben N 7). In der Lehre ist jedoch umstritten, inwieweit ein Klagerückzug einem rechtskräftigen Entscheid gleichzustellen ist. Nach Ansicht einiger Autoren stellt Art. 65 ZPO im Vergleich zu Art. 241 Abs. 2 ZPO eine lex specialis dar. Sie leiten daraus ab, ein Klagerückzug entfalte nur die negative (Ausschluss-)Wirkung der materiellen Rechtskraft, die in Art. 65 ZPO allein gemeint ist (Wirkung ohne Tragweite in casu, da der Streitgegenstand nicht mit jenem des ersten Prozesses identisch ist), und nicht die positive Wirkung der materiellen Rechtskraft. Daraus folge, dass ein Gericht, das mit einer Vorfrage befasst ist, die dem ersten Gericht in der zurückgezogenen Klage als Hauptfrage unterbreitet wurde, nicht an den Klagerückzug gebunden ist und folglich nicht davon ausgehen muss, dass diese Frage durch Abweisung rechtskräftig entschieden wurde (vgl. im Einzelnen BGE 148 III 30 E. 3.3, Anm. unter Art. 65, B. und in Newsletter 2021-N26 Nr. 6a). Gemäss anderen Autoren, deren Meinung wir teilen, darf Art. 241 Abs. 2 ZPO nicht ausser Acht gelassen werden, und es rechtfertigt sich nicht, die Wirkungen der materiellen Rechtskraft eines Klagerückzugs einzuschränken, sodass dieser die gleichen Wirkungen wie ein rechtskräftiger Abweisungsentscheid zeitigen muss (vgl. zit. Newsletter, Nr. 6a und 8). Im zit. BGE 148 liess das BGer die Frage offen; im vorliegenden, auf die Zulässigkeit der Klage beschränkten Entscheid musste es sie nicht beurteilen. Der weitere Verlauf dieses Prozesses, der die Gerichte seit mehr als zehn Jahren beschäftigt und in dem es um beträchtliche Beträge geht, wird dem BGer vielleicht Gelegenheit bieten, diese Frage zu klären.
Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPOOnline 2023-N3, Rz…