Rückdatierung der Rechtshängigkeit: Ist die neue Einreichung der identischen Eingabe stets erforderlich?

BGer 4A_44/2019* vom 20.9.2019 E. 3.5

Art. 63, 132, 229 Abs. 2 - UNZULÄSSIGES SCHLICHTUNGSGESUCH – NEUE EINREICHUNG DER EINGABE BEIM ZUSTÄNDIGEN HANDELSGERICHT – ANFORDERUNGEN AN DIE FORM UND DEN INHALT DER ERNEUT EINGEREICHTEN EINGABE – VERBOT DES ÜBERSPITZTEN FORMALISMUS

(E. 3.5.1) Jedenfalls auf den Fall, in dem das eingereichte Schlichtungsgesuch den Anforderungen an eine Klageschrift entspricht, ist die mit BGE 141 III 481 begründete Rechtsprechung anzuwenden [die Rückdatierung der Rechtshängigkeit i.S.v. Art. 63 Abs. 1 ZPO setzt die neue Einreichung der gleichen, ursprünglichen Rechtsschrift, im Original mit ihrem Eingangsstempel voraus]. (E. 3.5.2) Auch wenn eine Eingabe anfänglich bei einer unzuständigen Schlichtungsbehörde eingereicht wird, darf die klagende Partei nicht bevorteilt werden. Soweit Verbesserungen und Ergänzungen der ursprünglichen Eingabe erforderlich sind oder der Ansprecher solche für notwendig erachtet, steht es ihm offen, dieselben im Rahmen der Möglichkeiten vorzunehmen, die ihm das Prozessrecht nach Eintritt der Rechtshängigkeit im weiteren Verfahren vor der zuständigen Instanz einräumt, unter der Verfahrensleitung derselben (Behebung formeller Mängel gemäss Art. 132 Abs. 1 ZPO in einem der Neueingabe beigefügten Begleitschreiben; Möglichkeit, sich ein zweites Mal unbeschränkt zu äussern [Art. 229 Abs. 2 ZPO]; Vorbringen neuer Tatsachen und Beweismittel sowie Änderung der Klage gemäss Art. 229 [Abs. 1], 227 und 230 ZPO). Zwar kann das im ordentlichen (und im vereinfachten) Verfahren bestehende Recht, sich ein zweites Mal unbeschränkt zu äussern, eingeschränkt sein, wenn das Schlichtungsverfahren entfällt, weil richtigerweise das summarische Verfahren (vgl. Art. 198 lit. a ZPO) anwendbar wäre (s. BGE 144 III 117 E. 2.2). Diese Einschränkung besteht aber auch dann, wenn eine Klage zunächst bei einem Gericht im ordentlichen statt im summarischen Verfahren eingereicht wurde. Wie es sich damit verhält, wurde in BGE 141 III 481 nicht geklärt. Auch vorliegend braucht darauf nicht eingegangen zu werden, da das summarische Verfahren nicht anwendbar ist. (E. 3.5.3) In den soeben beschriebenen Grenzen ist eine Anpassung der Eingabe im Laufe des Prozesses zulässig. Für die Rückdatierung der Rechtshängigkeit gilt aber das Erfordernis der gleichen, im Original einzureichenden Rechtsschrift gemäss BGE 141 III 481 E. 3.2.4, auch wenn eine Eingabe zunächst bei einer unzuständigen Schlichtungsbehörde eingereicht wurde. (E. 3.5.4) Nur wenn sich ein Schlichtungsgesuch auf den Mindestinhalt gemäss Art. 202 ZPO beschränkt, sodass es in der Regel die Klageschrifterfordernisse nicht erfüllt, stellt sich die Frage, ob dem neu angerufenen Gericht eine ergänzte Klageschrift vorgelegt werden darf. Dabei ist jedenfalls im Auge zu behalten, dass Art. 63 ZPO auch bei sachlicher Unzuständigkeit anwendbar ist (vgl. BGer 4A_592/2013 vom 4.3.2014 E. 3.2 m.H.). Vorliegend kann die Frage indes offen gelassen werden. (E. 4.4) Da für die Beurteilung von Vorgängen, welche die Wahrung von Fristen beeinflussen, im Interesse der Rechtssicherheit einfache und klare Grundsätze aufzustellen sind, kann nicht Aufgabe des neu angerufenen Gerichts sein, die Klageschrift daraufhin zu untersuchen, ob und in welchem Umfang sie sich von der zunächst eingereichten Eingabe unterscheidet und ob die Verschiedenheit der beiden Eingaben ein Ausmass erreicht, das eine Rückdatierung der Rechtshängigkeit nicht mehr rechtfertigen lässt. Daraus folgt, dass die Einreichung der mit dem Eingangsstempel versehenen Originaleingabe grundsätzlich erforderlich ist. Legt indes der Kläger bei seiner neuen Rechtsschrift rechtzeitig eine Kopie (und nicht das Original) seiner – sehr kurze – Eingabe an die Schlichtungsbehörde, wobei es ohne Weiteres erkennbar ist, ob die beiden eingereichten Versionen identisch sind, ist überspitzt formalistisch, die nachträgliche Eingabe des (rechtzeitig in Kopie eingereichten) Originals nicht zuzulassen und aus diesem Grund die Rückdatierung der Rechtshängigkeit abzulehnen.

2019-N27 Rückdatierung der Rechtshängigkeit: Ist die neue Einreichung der identischen Eingabe stets erforderlich?
Bem. F. Bastons Bulletti

1 Mit seinem Schlichtungsgesuch begründet A. die Rechtshängigkeit und wahrt somit eine materiellrechtliche Verwirkungsfrist (nämlich die in Art. 706a Abs. 1 OR vorgesehene zweimonatige Frist). Allerdings erklärt die Schlichtungsbehörde sein Gesuch mangels sachlicher Zuständigkeit für unzulässig. Innert der einmonatigen Frist gemäss Art. 63 ZPO reicht A. beim zuständigen Gericht (nämlich dem Handelsgericht) eine Eingabe ein, in der er die gleichen Rechtsbegehren wie im früheren Gesuch stellt; zudem bringt er vor, die Schlichtungsbehörde habe sein Gesuch mangels sachlicher Zuständigkeit für unzulässig erklärt, und er habe die Verwirkungsfrist gewahrt, indem er gemäss Art. 63 ZPO vorgegangen sei. Dieser Eingabe legt er eine Kopie seines früheren Schlichtungsgesuches bei. Etwa zehn Tage später – nachdem die Monatsfrist gemäss Art. 63 ZPO geendet hat – reicht er das Original seines Schlichtungsgesuches ein. Das Handelsgericht weist seine Klage mit der Begründung ab, er habe den Voraussetzungen von Art. 63 ZPO, nämlich dem Einreichen der ursprünglichen Eingabe im Original innert Monatsfrist, nicht genügt. Nun war aber die Verwirkungsfrist gemäss Art. 706a Abs. 1 OR im Zeitpunkt der (neuen) Begründung der Rechtshängigkeit verstrichen.

2 Das BGer heisst die Beschwerde gut. Es bestätigt seine Rechtsprechung (BGE 141 III 481, Anm. unter Art. 63 Abs. 1, D.; s. N 4 unten) und hält es fest, dass die darin aufgestellten Voraussetzungen, nämlich die Neueinreichung der ursprünglichen Eingabe im Original, welcher ein erklärendes Begleitschreiben und nötigenfalls eine Übersetzung beigefügt werden kann, auch dann gilt, wenn die Partei vorab an die Schlichtungsbehörde gelangt ist. Jedenfalls verhält es sich so, wenn diese erste Rechtsschrift wie im vorliegenden Fall auch den auf eine Klage beim tatsächlich zuständigen Gericht anwendbaren Formvorschriften genügt. Einerseits können allfällige Formmängel entweder spontan in einem Begleitschreiben oder auf Aufforderung des Richters gemäss Art. 132 Abs. 1 ZPO verbessert werden. Andererseits sind allfällige Ergänzungen zu den Tatsachenbehauptungen und Beweisofferten im weiteren Verfahren entweder gemäss Art. 229 Abs. ZPO (anlässlich der zweiten uneingeschränkten «Äusserungsrunde» vorgebrachte Ergänzungen) oder später unter den Voraussetzungen von Art. 229 Abs. 1 ZPO zulässig. Ebenfalls ist eine allfällige Klageänderung gemäss Art. 227 sowie Art. 230 ZPO möglich. Diese Konstellation entspricht letztlich jener, in der der Kläger an ein Gericht gelangt ist, das sich für unzuständig erklärt oder das feststellt, der Kläger habe seine Klage nicht im richtigen Verfahren eingereicht. Allerdings ist das BGer der Ansicht, dass der Kläger im vorliegenden Fall den Anforderungen dieser Rechtsprechung im Wesentlichen Genüge getan hatte, sodass die Abweisung der Klage einen überspitzten Formalismus darstellte.

3 Art. 63 ZPO bezweckt, den Kläger nicht um den Vorteil der von ihm begründeten Rechtshängigkeit zu bringen, wenn er sich in der (örtlichen, sachlichen oder funktionellen) Zuständigkeit oder in der anwendbaren Verfahrensart geirrt hat. Die darin vorgesehene Rückdatierung der Rechtshängigkeit ist in erster Linie dann von Interesse, wenn eine – seither verstrichene – materiellrechtliche Verwirkungsfrist durch die begründeten Rechtshängigkeit gewahrt worden ist (vgl. Art. 64 Abs. 2 ZPO; vgl. BGE 141 III 481 E. 3.2.4, Anm. unter Art. 63 Abs. 1). Diesfalls kann der Verlust des fraglichen Rechts vermieden werden.

4 Allerdings erfolgt die Rückdatierung der Rechtshängigkeit nur dann, wenn die Eingabe innert einem Monat nach dem Klagerückzug oder der Zustellung des Nichteintretensentscheids «neu eingereicht» wird. In einem Leitentscheid (BGE 141 III 481, Anm. unter Art. 63 Abs. 1, D.) präzisierte das BGer, es handle sich darum, die identische, mit ihrem Eingangsstempel versehene Eingabe im Original und ohne Änderungen erneut einzureichen; dieser Eingabe können indes ein erklärendes Begleitschreiben und wenn nötig eine Übersetzung beigelegt werden. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, gilt die begründete Rechtshängigkeit als neu. Diese strikte Anforderung ist in Zusammenhang mit der Rechtsprechung in Bezug auf die Ergänzung der Tatsachenbehauptungen und Beweisofferten (Art. 229 ZPO) zu sehen. Da den Parteien im Anwendungsbereich der Verhandlungsmaxime nur zwei Äusserungsrunden zustehen, geht es darum, den Kläger nicht durch die Gewährung einer zusätzlichen Äusserungsrunde zu bevorzugen; diese würde ihm aber de facto zukommen, wenn er die Möglichkeit erhalten würde, seine Eingabe bei ihrer Neueinreichung zu ändern. In diesem Kontext erspart auch das Erfordernis der Einreichung der (ersten) Eingabe im Original dem Gericht die Aufgabe, zwei unterschiedliche Rechtsschriften vergleichen zu müssen, um zu bestimmen, was unverändert geblieben ist und was geändert wurde. Auch wenn das BGer im vorliegenden Fall einige mit dem aus dem Grundsatz von Treu und Glaube fliessenden Verbot des überspitzten Formalismus (Art. 52 ZPO; E. 5.2) verknüpfte Milderungen zulässt, hält es sich klar an diese Rechtsprechung.

5 Wurde die ursprüngliche Eingabe nicht bei einem Gericht, sondern bei der Schlichtungsbehörde eingereicht, die sich deshalb für unzuständig erklärt hat, weil die Sache nicht dem Schlichtungsverfahren unterliegt, vertritt ein Teil der Lehre die Meinung, dass der Kläger, der in der Folge gemäss Art. 63 ZPO vorgeht, eine veränderte Eingabe einreichen kann, um deren Zulässigkeit sicherzustellen (s. E. 3.3 des Urteils). Das BGer lehnt diesen Vorschlag jedenfalls für den Fall ab, dass das Schlichtungsgesuch wie im vorliegenden Fall den Voraussetzungen einer Klage (Art. 221 ZPO) im vor dem Handelsgericht massgebenden ordentlichen Verfahren bereits genügt; im vorliegenden Fall fehlte einzig die Angabe des Streitwerts (Art. 221 Abs. 1 lit. c ZPO), die das Handelsgericht vom Kläger innert einer gemäss Art. 132 Abs. 1 ZPO angesetzten Frist einfach anfügen lassen konnte. Daher führt der Umstand, dass die Eingabe zuerst an eine Schlichtungsbehörde und nicht an ein Gericht gerichtet war, an sich nicht dazu, dass der Kläger, der seine Klageschrift erneut einreicht, eine andere Eingabe als die ursprüngliche einreichen könnte. In diesem Punkt erscheint uns die Ansicht des BGer überzeugend. Insb. rechtfertigt der Umstand, dass sich der Kläger, der sich in der Zuständigkeit der Schlichtungsbehörde geirrt hat, bei der Abfassung seiner ursprünglichen Klageschrift zweifellos nicht bewusst war, dass er diese letztlich nur einmal (d.h. bei der zweiten Äusserungsrunde im ordentlichen Verfahren) wird frei abändern können, nicht, dass ihm eine zusätzliche Äusserungsrunde in jenem Zeitpunkt gewährt wird, in dem er seine Klageschrift beim zuständigen Handelsgericht neu einreicht.

6 Die in der Lehre aufgeworfene Frage stellt sich somit nicht immer, und auch nicht nur im Fall eines zu Unrecht eingereichten Schlichtungsgesuches. Sie stellt sich dann, wenn die ursprüngliche Eingabe den Anforderungen an die beim zuständigen Gericht einzureichende Rechtsschrift nicht genügt. Dies kann – wie dies das BGer in Betracht zieht, ohne die Frage zu beantworten – bei einem Schlichtungsgesuch der Fall sein, das nur den in Art. 202 Abs. 2 ZPO aufgestellten Anforderungen entspricht, oder auch dann, wenn sich der Kläger in seiner ans Gericht adressierten Klage oder in seinem Gesuch in der massgeblichen Verfahrensart (Art. 63 Abs. 2 ZPO) und/oder in der sachlichen oder funktionellen Zuständigkeit irrt und z.B. eine Klage im vereinfachten Verfahren (Art. 244 ZPO) statt einer Klage im ordentlichen Verfahren gemäss Art. 221 ZPO einreicht.

7 In diesen Fällen ist u.E. zu unterscheiden:
Rein formelle Mängel (z.B. Fehlen einer Unterschrift, einer Vollmacht, eines Verzeichnisses der Beweismittel; Fehlen der Bezeichnung allfälliger Vertreter oder der Angabe des Streitwerts) sind auch in diesen Fällen ohne weiteres heilbar – und dies entweder unaufgefordert durch den Kläger in einem der ursprünglichen Eingabe beigelegten Begleitschreiben oder auf Aufforderung des neu befassten Richters gemäss Art. 132 Abs. 1 ZPO. Diesbezüglich liegt kein Grund vor, von den in BGE 141 III 481 aufgestellten Anforderungen abzuweichen.

8 – Die Frage nach den Mängeln, die sich auch in der Sache, d.h. auf die Begründetheit der Klage, auswirken, ist heikler: Während es im Schlichtungsverfahren oder im vereinfachten Verfahren genügt, den Streitgegenstand zu beschreiben und (im vereinfachten Verfahren) die verfügbaren Urkunden einzureichen (Art. 202 Abs. 2, Art. 244 Abs. 1 ZPO), muss die Klageschrift im ordentlichen Verfahren – und sogar das Gesuch im Summarverfahren (vgl. Art. 252 ZPO und Anm. zu dieser Bestimmung) – Tatsachenbehauptungen und die Bezeichnung der Beweismittel enthalten (Art. 221 Abs. 1 lit. d und e ZPO). Allerdings wird in den der Verhandlungsmaxime unterliegenden Angelegenheiten – d.h. fast in allen dem ordentlichen Verfahren und in einem Teil der dem Summarverfahren unterliegenden Angelegenheiten – nur selten akzeptiert, dass die diesen Anforderungen nicht genügende Klageschrift an einem Formmangel leidet, dessen Heilung der Richter gemäss Art. 56 oder 132 Abs. 2 ZPO erlauben muss. Ausser wenn das Gericht nicht verstehen kann, was Gegenstand des Prozesses ist, und sich der Beklagte deswegen mit der Klage nicht auseinandersetzen kann, hat der Richter nicht einzugreifen, um die Klage verbessern zu lassen (vgl. BGE 144 III 54, Anm. unter Art. 221 Abs. 1 lit. d, 2. und 2.a. und in Newsletter vom 7.2.2018). Mit Blick auf diese Rechtsprechung leidet eine Eingabe, die eine Beschreibung des Streitgegenstands enthält, nicht zwingend an einem heilbaren Formmangel. War jedoch die Bezeichnung der angebotenen Beweismittel im ursprünglich eingeleiteten Verfahren nicht erforderlich und enthält die ursprüngliche Rechtsschrift keine derartige Bezeichnung, ist u.E. von einem Formmangel auszugehen, was rechtfertigt, dass der Richter dem Kläger gemäss Art. 132 oder 56 ZPO Gelegenheit gibt, seine Eingabe in diesem Punkt zu vervollständigen. Gleiches gilt, wenn nur eine allgemeine oder zu unbestimmte Beschreibung des Streitgegenstands ohne verständliche Schilderung des Sachverhalts vorliegt. Enthält die Eingabe hingegen eine verständliche Schilderung des Sachverhalts und werden Beweise angeboten, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass die Klageschrift – unter Vorbehalt der Korrektur allfälliger anderer Formmängel gemäss Art. 132 ZPO – den gesetzlichen Anforderungen an ihren Inhalt genügt. Die Konstellation ist diesfalls die gleiche wie im Fall, der im vorliegenden Urteil beurteilt wurde. Somit muss der Kläger seine erste Eingabe im Original ohne Veränderungen einreichen (oben N 5).

9 Immerhin kann diese Rechtsschrift in dem Sinne keine materiell genügenden Behauptungen und Beweisofferten enthalten, als der vorgebrachte Sachverhalt und die angebotenen Beweismittel nicht schlüssig sind und/oder nicht ausreichen können, um die Begründetheit der Klage darzutun (vgl. Anm. unter Art. 221 Abs. 1 lit. d, 3. und 4.). Nun wiegt aber dieser materielle Mangel schwerer als ein Formmangel: Eine unvollständige oder ungenügende Darlegung des Sachverhalts oder die Unterlassung, alle Beweise anzubieten, können zur endgültigen Abweisung der Klage führen (vgl. zit. BGE 144). Auch diesfalls ist jedoch ¬ wie das BGer betont – der Kläger, der seine ursprüngliche Eingabe erneut einreichen muss, grundsätzlich nicht benachteiligt. Er kann seine Klage im Laufe des Verfahrens insofern noch frei vervollständigen, als er über eine zweite uneingeschränkte Äusserungsrunde verfügt und er dieses Recht entweder schriftlich in einem zweiten Schriftenwechsel oder mündlich anlässlich einer Instruktionsverhandlung oder ansonsten zu Beginn der Hauptverhandlung wird wahrnehmen können (Art. 229 Abs. 2; Anm. unter Art. 229 Abs. 1 und 2, insb. BGE 140 III 312 und BGer 4A_70/2019* vom 6.8.2019, Anm. in Newsletter 2019-N22). Ist seine ursprüngliche Klage materiell unvollständig, wird sich der Kläger zwar nur anlässlich seiner «zweiten Chance» umfassend äussern können. Jeder Fehler oder jede Unterlassung wird schwerwiegende Folgen haben, da er in der Folge nur echte Noven oder entschuldbare unechte Noven wird vorbringen können (Art. 229 Abs. 1 ZPO). Mit Blick auf die strikte Rechtsprechung des BGer, die die Möglichkeit einer « dritten Chance » z.B. auch dann ausschliesst, wenn der Kläger mit unvorhersehbaren Argumenten des Beklagten konfrontiert wird (zit. BGer 4A_70/2019*), erstaunt es jedoch nicht, dass der Kläger, der seine Klage in der ursprünglichen Rechtsschrift ungenügend begründet hat, da er sich in der Zuständigkeit oder in der anwendbaren Verfahrensart geirrt hat, nicht besser gestellt wird.

10 Allerdings gibt es zwei Fälle, in denen die in Art. 229 Abs. 2 ZPO eingeräumte Ergänzungsmöglichkeit entfällt:

10a – Wenn das summarische Verfahren anwendbar ist. Diesfalls steht den Parteien grundsätzlich nur eine uneingeschränkte Äusserungsrunde zur Verfügung, es sei denn, das Gericht würde einen zweiten Schriftenwechsel oder eine Verhandlung anordnen (BGE 144 III 117 E. 2.2, Anm. unter Art. 229 Abs. 1 und 2, A.2.b. und unter Art. 253, C.). Unter diesen Umständen können die materiellen Fehler in der ursprünglichen Eingabe grundsätzlich nicht geheilt werden, dies auf die Gefahr hin, dass das Gesuch definitiv abgewiesen wird.

10b – Wenn der Beklagte keine Klageantwort einreicht. Diesfalls hat der Kläger – im ordentlichen Verfahren oder sogar im vereinfachten Verfahren – kein Recht auf eine schriftliche oder mündliche Replik, in der er seine Klage gemäss Art. 229 Abs. 2 ZPO frei ergänzen könnte (vgl. BGer 5A_921/2017 vom 16.7.2018 E. 3.5, Anm. unter Art. 229 Abs. 1 und 2, A.1.). Ist die erneut eingereichte Eingabe formell vollständig und geht das Gericht davon aus, die Angelegenheit sei spruchreif, entscheidet es ohne Hauptverhandlung (Art. 223 Abs. 2 ZPO). Zwar sind diesfalls die behaupteten Tatsachen mangels Klageantwort unbestritten; genügen diese Behauptungen jedoch nicht, um den geltend gemachten Anspruch zu begründen, wird die Klage definitiv abgewiesen (vgl. Anm. unter Art. 223 Abs. 2 ZPO, insb. BGer 5A_749/2016 vom 11.5.2017 E. 4 und 5 und KGer/BL vom 24.4.2012 [400 12 25] E. 2).

11 In diesen beiden Fällen scheint uns, dass die in Art. 63 ZPO eingeräumte Möglichkeit illusorisch ist, wenn der Kläger seine ursprüngliche Eingabe nicht ergänzen kann. Denn dieser findet sich unerwartet in einer Rechtslage, in der er seine – für das richtige Verfahren materiell ungenügende – Eingabe nicht mehr verbessern kann, obwohl die materiellen Mängel dieser Eingabe auf seinen Irrtum über die Zuständigkeit oder die Verfahrensart – und nicht etwa auf eine blosse Nachlässigkeit – zurückzuführen sind. Nun hat aber der Gesetzgeber gewollt, dass der Kläger mit der Rückdatierung der Rechtshängigkeit die Möglichkeit erhält, sein Recht trotz dieses Irrtums nicht zu verlieren. Daher kann der Gesetzgeber nicht gewollt haben, dass der Kläger seine Eingabe nur an die formellen, nicht aber die materiellen Anforderungen der richtigen Verfahrensart anpassen kann, mit der Folge, dass er sein Recht letztlich ohnehin verliert.

12 Würde dem Kläger jedoch die Gelegenheit gegeben, seine Eingabe bei ihrer neuen Einreichung zu ergänzen, würde dies darauf hinauslaufen, ihm von vornherein im Vergleich zum Beklagten eine Äusserungsrundenvorsprung zu gewähren, was dem Grundsatz der Gleichheit der Parteien widersprechen würde. Da zudem eine künftige Säumnis des Beklagten im Zeitpunkt der neuen Einreichung der Klage stets möglich ist, müsste dem Kläger in jeden Fall erlaubt werden, seine Klage bei der neuen Einreichung zu ergänzen, was der Rechtsprechung widersprechen würde, die das BGer soeben bestätigt hat. Allerdings könnte in beiden erörterten Fällen eine andere Lösung in Frage kommen: Im ersten Fall könnte ein zweiter Schriftenwechsel oder eine Verhandlung dann zwingend anzuordnen sein, wenn der Kläger nach Zustellung der Stellungnahme des Beklagten einen entsprechenden Antrag stellt. Im zweiten Fall könnte dem Kläger auch erlaubt werden, seine Klage zu vollständigen, soweit er dies verlangt, nachdem er auf die Säumnis der Beklagten hingewiesen worden ist. In der Folge könnte sich der Beklagte zu den neuen Behauptungen und Beweisanträgen vernehmen lassen, nicht jedoch seine Verwirkung in Bezug auf die ursprünglichen Behauptungen heilen.

Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2019-N27, Rz…

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