Auch wenn Art. 106 Abs. 1 ZPO nur vom “Klagerückzug” spricht, gilt im Rechtsmittelverfahren die rechtsmittelführende Partei als unterliegend, wenn sie die Berufung zurückzieht. Nach dem Grundsatz der Kostenverteilung nach dem Ausgang des Verfahrens hat sie diesfalls grundsätzlich alle zweitinstanzlichen Prozesskosten zu tragen. Fällt die Anschlussberufung infolge des Rückzuges der Berufung dahin, hat grundsätzlich der Hauptberufungskläger dem Anschlussberufungskläger die diesem in Zusammenhang mit der Anschlussberufung entstandenen Kosten angemessen zu ersetzen. Diese Kosten wurden auch grundsätzlich vom Hauptberufungskläger provoziert, wäre doch die Anschlussberufung ohne Einreichung der Berufung gar nicht erhoben worden. Von diesem Grundsatz kann nur abgewichen werden, wenn die Umstände des Einzelfalls eine davon abweichende Kostenverteilung rechtfertigen, was sich in erster Linie nach den Anträgen der Anschlussberufung beurteilt. Denn mit dieser können eigenständige Anträge gestellt werden (BGE 141 III 302 E. 2.2; 138 III 788 E. 4.4), die regelmässig zu einer Erweiterung des Streitgegenstandes führen. Es kann unter Umständen – namentlich bei teilweise offensichtlich unbegründeten Begehren – unbillig erscheinen, die gesamten Kosten des gegenstandslos gewordenen Anschlussberufungsverfahrens der Berufungsklägerin aufzuerlegen. Es handelt sich dabei um einen Ermessensentscheid [i.S.v. Art. 107 Abs. 1 ZPO], der vom Gericht nach Recht und Billigkeit im Sinne von Art. 4 ZGB zu treffen ist.
2019-N10 Dahinfallen der Anschlussberufung- Wer muss bezahlen?
Bem. F. Bastons Bulletti
1 Die Verteilung der Kosten des Berufungsverfahrens wird grundsätzlich vom Berufungsgericht geregelt (unter Vorbehalt des Falles, in dem es die Sache an den erstinstanzlichen Richter zurückweist, vgl. Art. 104 Abs. 4 ZPO). Die sich aus Art. 106 ff. ZPO ergebenden Verteilungsgrundsätze sind anwendbar. Die im Berufungsverfahren unterlegene Partei hat somit die Kosten dieses Verfahren zu tragen, und zwar selbst dann, wenn sie im erstinstanzlichen Verfahren obsiegt hat.
2 Wenn die Berufung zurückgezogen wird, wird die Rechtslage einem in Art. 106 Abs. 1 ZPO vorgesehenen Klagerückzug gleichgestellt: So wie jene Partei, die ihre Klage zurückzieht (Art. 65 ZPO), alle Prozesskosten zu tragen hat, muss der Hauptberufungskläger, der seine Berufung zurückzieht, die zweitinstanzlichen Kosten vollumfänglich tragen. Hingegen bleibt der erstinstanzliche Kostenentscheid unberührt, da der angefochtene Entscheid mit dem Rückzug der Berufung in Rechtskraft erwächst; wurde dieser erstinstanzliche Kostenentscheid mit der Berufung angefochten, wird er endgültig (BGer 5D_49/2018 vom 7.8.2018 E. 2.3, Anm. unter Art. 313 Abs. 2 und unter Art. 318 Abs. 3).
3 Hier stellte sich die Frage, ob der Berufungskläger, der seine Berufung zurückzieht, auch jene Kosten tragen muss, die aufgrund einer infolge dieses Rückzugs dahingefallenen Anschlussberufung der Gegenpartei entstanden sind (Art. 313 Abs. 2 lit. c ZPO). Das OGer/ZH verneinte diese Frage mit der Begründung, der Anschlussberufungskläger sei das von ihm zu tragende Risiko eingegangen, dass seine Anschlussberufung dahinfallen könnte. In diesem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil ist das BGer dem OGer/BE nicht gefolgt.
4 Das BGer geht im Gegenteil davon aus, die Kosten der Anschlussberufung seien grundsätzlich dem Hauptberufungskläger aufzuerlegen, der seine Berufung zurückzieht. Denn er hat diese verursacht, da die Anschlussberufung ohne die Hauptberufung überhaupt nicht eingereicht worden wäre.
5 Das BGer berücksichtigt allerdings auch den Umstand, dass die Anschlussberufung infolge des Rückzugs der Berufung dahinfällt und das Verfahren diesfalls ohne Entscheid in analoger Anwendung von Art. 242 ZPO – und nicht von Art. 241 ZPO, wie dies bei einem sich auf die Klage selbst und nicht auf die Berufung beziehenden Rückzug (Klagerückzug nach Art. 65 ZPO) der Fall ist – abgeschrieben wird. Wird nun aber das Verfahren gegenstandslos i.S.v. Art. 242 ZPO, erlaubt Art 107 Abs. 2 lit. e ZPO dem Gericht, von den allgemeinen Verteilungsregeln abzuweichen und die Kosten nach Ermessen zu verteilen. Indem es daran erinnert, dass sich die Ausübung des richterlichen Ermessens in diesem Rahmen sowohl auf den Grundsatz dieser Abweichung von Art. 106 Abs. 1 ZPO als auch auf deren Ausmass bezieht (BGE 139 III 358 E. 3, Anm. unter Art. 107 Abs. 1, Allgemeines), erwägt das BGer, diese Bestimmung sei auf die Kosten der Anschlussberufung anwendbar. Jedenfalls diesbezüglich kann das Berufungsgericht somit von der in Art. 106 Abs. 1 ZPO vorgesehenen Verteilung abweichen und die Kosten der Anschlussberufung dem Berufungsbeklagten ganz oder teilweise auferlegen.
6 Diese Lösung erscheint uns gerechtfertigt: Da die Hauptberufung zurückgezogen wird, wird die Begründetheit der Anschlussberufung nicht geprüft. Nun hat aber die Anschlussberufung nicht zwingend den gleichen Gegenstand wie die Hauptberufung, deren Rückzug praktisch einer Abweisung gleichkommt. Damit ist es je nach den konkreten Umständen möglich, z.B. der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der Anschlussberufungskläger durch seine Rechtsbegehren einen zusätzlichen Aufwand verursacht hat – dies ist der Fall, wenn er andere Themen als jene der Hauptberufung vorbringt – und der Prozess wahrscheinlich nicht zu seinen Gunsten ausgegangen wäre. Diese Lösung ist u.E. auch dann anzuwenden, wenn sich die Anschlussberufung unabhängig von ihren Rechtsbegehren als klar unzulässig – z.B. verspätet, nicht begründet – erweist.
Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2019-N10, Rz…