Neue Tatsachen, die nach Erlass von vorsorglichen Regelungsmassnahmen bekannt werden: Abänderungsklage oder Revision?

BGer 5A_42/2019 vom 18.4.2019 E. 3.2

Art. 271 ff., 276, 328 Abs. 1 - VORSORGLICHE REGELUNGSMASSNAHMEN – NEUE TATSACHEN UND BEWEISMITTEL – ABGRENZUNG ZWISCHEN ABÄNDERUNG UND REVISION

Eheschutzmassnahmen und vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsverfahren entfalten eine beschränkte materielle Rechtskraft (BGE 142 III 193 E. 5.3 i.f. m.H). Somit können sie (für die Zukunft) gemäss (durch Verweis in Art. 276 Abs. 1 ZPO auf die vorsorglichen Massnahmen im Scheidungsverfahren anwendbarem) Art. 179 Abs. 1 ZGB bei einer nach deren Anordnung entstandenen wesentlichen und dauerhaften Änderung der tatsächlichen Umstände abgeändert oder aufgehoben werden. Allerdings schliesst dieser spezielle Abänderungsgrund – im Unterschied zur in der Regel auf die vorsorglichen Massnahmen anwendbaren Ordnung (BGE 138 III 382 E. 3 [Ausschluss der Revision für einen Entscheid über eine Arresteinsprache]) – die allgemeinen Revisionstatbestände gemäss Art. 328 Abs. 1 ZPO nicht aus (BGer 5A_842/2015 vom 26.5.2016 E. 2.4, n.v. in BGE 142 III 518). Bereits vor dem Inkrafttreten der ZPO hatte die Rechtsprechung die Revision sog. vorsorglicher Regelungsmassnahmen wie vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsverfahren vorbehalten (BGE 127 III 496 E. 3b/bb i.f., wobei die in diesem Urteil aufgestellten Grundsätze ihre Gültigkeit auch unter der ZPO behalten, BGE 139 III 126 E. 4.4; BGer 5A_97/2017 vom 23.8.2017 E. 11.2). Kürzlich hat das BGer präzisiert, dass die Abänderungsklage i.S.v. Art. 179 ZGB nur mit echten Noven begründet werden kann, sodass einzig der Weg der Revision offensteht, wenn es darum geht, unechte Noven vorzubringen, die nicht vor dem Beginn der Urteilsberatung im Berufungsverfahren eingereicht werden konnten (BGE 143 III 42 E. 5.2 und 5.3).

2019-N16 Neue Tatsachen, die nach Erlass von vorsorglichen Regelungsmassnahmen bekannt werden: Abänderungsklage oder Revision?
Bem. F. Bastons Bulletti

1 Ein Eheschutzmassnahmenverfahren endete im November 2017 mit einem Entscheid des Appellationshofs. Ein Jahr später reichte die Ehefrau eine Revisionsklage bei diesem Hof ein, wobei sie einerseits eine Tatsache geltend machte, die sich vor dem Abschluss des ersten Verfahrens ereignet hatte – nämlich ein Nebeneinkommen, das ihr Ehemann verheimlicht habe und das sie mit einer im Juli 2017 erstellten Rechnung belegte –, das sie aber erst im September 2018 entdeckt hatte. Andererseits brachte sie eine Tatsache vor, die sich nach dem Eheschutzmassnahmenverfahren ereignet hatte – nämlich die Tatsache, dass ihr ehemaliger Ehemann per 1. Oktober 2018 einen neuen Arbeitsvertrag abgeschlossen hatte. Da auf ihre Revisionsklage nicht eingetreten wurde, gelangte die Ehefrau ans BGer.

2 Mangels hinreichender Begründung wurde ihre gegen einen Entscheid um vorsorgliche Massnahmen i.S.v. Art. 98 BGG gerichtete Beschwerde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wurde. Dennoch hatte das BGer Gelegenheit, einen wichtigen Punkt in Bezug auf die Abgrenzung zwischen der Abänderung und der Revision vorsorglicher Regelungsmassnahmen klarzustellen.

3 Denn das Gesetz sieht einerseits die Möglichkeit vor, vorsorgliche Massnahmen wie prozessleitende Verfügungen (vgl. Art. 126 i.f. ZPO, Anm. unter Art. 124 sowie Bem. unten, Newsletter 2019-16) oder Entscheide über vorsorgliche Massnahmen im Allgemeinen (Art. 268 Abs. 1 ZPO) abzuändern. Ebenfalls sieht es die Möglichkeit vor, sog. vorsorgliche Regelungsmassnahmen abzuändern, d.h. Massnahmen, die die Verhältnisse der Parteien während des Prozesses regeln sollen und auf die im späteren Hauptentscheid nicht zurückgekommen werden kann (z.B. Eheschutzmassnahmen, Art. 179 ZGB, oder vorsorgliche Massnahmen im Scheidungsverfahren, Art. 276 Abs. 1 und 2 ZPO i.V.m. Art. 179 ZGB; BGE 142 III 193 E. 5.3, Anm. unter Art. 276, B.). Zudem sind weitere Entscheide von Gesetzes wegen abänderbar, obwohl sie keinen vorsorglichen Charakter aufweisen, so z.B. Scheidungsurteile (Art. 129, 134, 286 ZGB, Art. 284 ZPO) oder Entscheide der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Art. 256 Abs. 2 ZPO).

4 Andererseits sieht ZPO die Möglichkeit der Revision eines Entscheides vor, vorausgesetzt, dass dieser in Rechtskraft erwachsen ist und ein Revisionsgrund gemäß Art. 328 Abs. 1 lit. a–c oder Abs. 2 ZPO vorliegt. Dieses ausserordentliche Rechtsmittel zielt darauf ab, in als schwerwiegend erachteten Fällen die Unmöglichkeit auszugleichen, einen rechtskräftigen Entscheid – d.h. einen Entscheid, der keinem Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung der formellen Rechtskraft (mehr) unterliegt – in Frage zu stellen. Denn ein derartiger Entscheid entfaltet grundsätzlich materielle Rechtskraft, deren (positive [präjudizielle], negative und präklusive, vgl. Anm. unter Art. 59 Abs. 2 lit. e, 3. und 4.) Wirkungen jeglicher neuen Klage zwischen den gleichen Parteien über den gleichen Streitgegenstand oder über einen Streitgegenstand entgegenstehen, die die vorfrageweise Prüfung jener Frage mit sich bringt, die im ersten Entscheid als Hauptfrage beurteilt worden war. Dies gilt selbst dann, wenn dieser neuen Klage Tatsachen oder Beweismittel zugrunde liegen, die im vorherigen Verfahren unbekannt waren, sofern diese Vorbringen bereits vor Abschluss dieses Verfahrens bestanden hatten (unechte Noven) und mit dem im ersten Prozess individualisierten Anspruch schlechthin verbunden sind; beruht die neue Klage hingegen auf Tatsachen, die nach dem Abschluss des früheren Verfahrens entstanden sind (echte Noven), ist diese neue Klage zulässig, weil sich ihr Gegenstand dadurch vom ersten unterscheidet (vgl. insb. das kürzlich ergangene Urteil BGer 4A_563/2017* vom 19.2.2019 E. 5.1 m.H, Bem. in Newsletter 2019-N12). Denn die Revision erlaubt eben gerade, unter gewissen Voraussetzungen (Art. 328 Abs. 1 lit. a–c und Abs. 2 ZPO) die materielle Rechtskraft zu durchbrechen, d.h. den rechtskräftigen Entscheid aufzuheben und die Möglichkeit eines neuen, auf diesen unechten Noven begründeten Entscheids in der gleichen Sache zwischen den gleichen Parteien zu schaffen. Daher steht die Revision nur gegen einen rechtskräftigen, d.h. mit keinem anderen Rechtsmittel mehr korrigierbaren Entscheid offen.

5 In einem veröffentlichen Urteil (BGE 138 III 382 E. 3.2.1, Anm. unter Art. 328 Abs. 1, A.) leitete das BGer daraus ab, dass ein Entscheid um ordentliche vorsorgliche Massnahmen nicht der Revision unterliegt. Dieser Entscheid erwächst nur in formelle Rechtskraft, entfaltet aber gerade insoweit keine materielle Rechtskraft, als er bei neuen Tatsachen (echte oder unechte Noven, s. z.B. Art. 268 Abs. 1 ZPO) jederzeit weitgehend abänderbar ist (Art. 268 Abs. 1 ZPO). Somit ist eine gegen einen vorsorglichen Massnahmenentscheid gerichtete Revisionsklage unzulässig. Gleiches gilt für Entscheide der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Art. 256 Abs. 2; BGE 143 III 43 E. 2.5, Anm. unter Art. 268) und für prozessleitende Verfügungen (Art. 124 ZPO; BGer 5A_1002/2017 vom 12.3.2019 E. 4.3.1; BGer 5A_872/2018 vom 27.2.2019 E. 3.3.2, s. Bem. unten, Newsletter 2019-N17, n. 3 ; auch ZPO Komm-Freiburghaus/Afheldt Art. 328 N 8a; CR CPC-Schweizer Art. 328 N 10; BK ZPO-Sterchi Art. 328 N 7): Alle diese Entscheide können jederzeit entweder durch eine Wiedererwägung, wenn unechte Noven vorgebracht werden (und sogar ohne Noven, wenn es um einen Entscheid der freiwilligen Gerichtsbarkeit geht, vgl. BGer 5A_570/2017 vom 27.8.2018 E. 5.2–5.3, Anm. unter Art. 256 Abs. 2 und in Newsletter vom 25.10.2018), oder durch ein neues Gesuch, wenn es sich um echte Noven handelt (BGer 5A_299/2015 vom 22.9.2015 E. 3.2 für die entweder als Entscheid der freiwilligen Gerichtsbarkeit oder als prozessleitende Verfügung bezeichnete Anordnung über die unentgeltliche Rechtspflege), abgeändert werden. Somit ist eine Revision weder notwendig noch möglich. Hingegen entfalten die weiteren, in einem – in der Regel atypischen, mit umfassender Prüfung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht (vgl. Anm. unter Art. 248, Allgemeines, insb. BGE 144 III 100 E. 6) – summarischen Verfahren ergangenen Entscheide volle materielle Rechtskraft; damit sind diese Entscheide unwiderruflich – unter Vorbehalt einer Revision, die selbstverständlich zulässig ist (zit. BGE 143, ibid.).

6 Daraus folgt, dass für diese keiner Revision unterliegenden Entscheide die Abänderung dann eine Art vereinfachte Revision darstellt, wenn sie auf unechten Noven beruht; diese lässt sich mit dem typischen summarischen Charakter des Verfahrens begründen, das zum Entscheid geführt hat. Denn die Voraussetzungen für eine Abänderung sind grosszügiger als jene für eine Revision, die den sich aus Art. 328 ff. ZPO ergebenden Einschränkungen unterliegt. So ist es für die Abänderung dieser Entscheide etwa unerheblich, ob die neuen Tatsachen und Beweismittel unechte oder echte Noven darstellen, während diese Frage für die Zulässigkeit einer Revision von wesentlicher Bedeutung ist (vgl. BGE 142 III 413 E. 2.2.6, Anm. unter Art. 328 Abs. 1, C.a. und in Newsletter vom 23.6.2016; BGE 143 III 272 E. 2.2–2.4, Anm. ibid. und in Newsletter vom 8.6.2017). Hingegen zeitigt die Abänderung – im Gegensatz zur Revision, die zur Aufhebung des in Frage stehenden Entscheids und zu einem diesen ersetzenden neuen Entscheid führt –, grundsätzlich nur Wirkungen ex nunc et pro futuro. Allerdings ist eine Rückwirkung in Ausnahmefällen nicht ausgeschlossen (s. z.B. zum rückwirkenden Entzug der unentgeltlichen Rechtspflege BGer 5A_569/2017 vom 4.8.2017 E. 5.1, Anm. unter Art. 120).

7 Für Entscheide über vorsorgliche Regelungsmassnahmen war die Rechtslage weniger klar.

7a In einem veröffentlichen Urteil (BGE 141 III 376 E. 3.4, Anm. unter Art. 276 Abs. 2, D.1.a. und in Newsletter vom 18.11.2015; s. auch BGE 142 III 193 E. 5.3, Anm. unter Art. 276 Abs. 1, B.) präzisierte das BGer, dass diese Entscheide beschränkte materielle Rechtskraft entfalten. Zwar können sie – mit ex nunc-Wirkung – abgeändert werden, jedoch setzt deren Abänderung eine Änderung der Verhältnisse (d.h. das Auftreten echter Noven) voraus; im Übrigen kommt ihnen Bindungswirkung zu, und einem neuen Gesuch kann die Einrede der abgeurteilten Sache dann entgegengehalten werden, wenn dieses Gesuch auf einem Sachverhalt beruht, der mit jenem in einem früheren Gesuch vollumfänglich identisch ist. Diese so umschriebene materielle Rechtskraft schien die Möglichkeit einer Revision mit sich zu bringen für den Fall, dass unechte Noven nach dem Abschluss des Verfahrens entdeckt werden; das Urteil lieferte aber in dieser Hinsicht keine weitere Erklärung.

7b In einem späteren Urteil hielt das BGer fest, dass « spezielle, weiter gefasste Abänderungsgründe » bei diesen Massnahmenentscheiden « die allgemeinen Revisionstatbestände » ergänzen, ohne präzis anzugeben, ob und wie diese beiden Rechtswege nebeneinander bestehen (BGer 5A_842/2015 vom 26.5.2016 E. 2.4 n.v. in BGE 142 III 518, Anm. unter Art. 276 Abs. 2, D.1.a.).

7c Etwas später (BGE 143 III 42 E. 5.2, Anm unter Art. 276 Abs. 2, D.1.b. und in Newsletter vom 11.1.2017) betonte es, dass nur echte Noven – denen echte neue Beweismittel gleichgesetzt werden, die aber eine Tatsache beweisen sollen, die ein unechtes Novum darstellt – eine Abänderungsklage zu begründen vermögen, was e contrario – im gleichen Sinne wie das vorliegende Urteil – bestätigte, dass der Rechtsweg der Revision zum Vorbringen unechter Noven offensteht und benutzt werden muss.

7d Jedoch wurde ein Jahr später in einem weiteren Urteil (BGE 143 III 617 E. 3.1) eine Rechtsprechung bestätigt, die regelmässig zusammen mit den obenerwähnten Urteilen in Erinnerung gerufen wurde (BGer 5A_136/2014 vom 5.11.2014 E. 3.2; 5A_235/2016 vom 15.8.2016 E. 3.1 m.H.; s. auch Anm. unter Art. 276 Abs. 2, D.1.b, insb. BGer 5A_400/2012 vom 25.2.2013 E. 4.1), wonach die Abänderung auch dann offen steht, wenn sich die Tatsachen, die zur Wahl der Massnahmen geführt haben, deren Abänderung beantragt wird, als falsch erwiesen haben, oder wenn sich der Massnahmenentscheid nachträglich als nicht gerechtfertigt herausstellt, weil dem Massnahmengericht wichtige Tatsachen nicht zuverlässig bekannt waren – anders gesagt: wenn unechte Noven entdeckt werden.

8 Mit dem vorliegenden Urteil wird eine völlig klare Antwort gegeben: Bei vorsorglichen Regelungsmassnahmen begründen echte Noven – und nur diese – eine neue Klage, d.h. eine Abänderungsklage. Unechte Noven sind auf dem Weg der Revision vorzubringen. Man kann diesen Entscheid, der ein klares und kohärentes System erkennen lässt, nur begrüssen.

9 Dennoch gibt es Fälle (wie der vorliegende), in denen es darum geht, gleichzeitig sowohl unechte als auch echte Noven vorzubringen. Diesfalls fällt die Abänderungsklage in die Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts, während für die Revision das Gericht zuständig ist, welches als letzte Instanz in der Sache entschieden hat (Art. 328 Abs. 1 ZPO); dabei kann es sich – wie im vorliegenden Fall – um das kantonale Berufungs- bzw. Beschwerdegericht handeln. Es ist nicht sehr befriedigend, wenn sich zwei unterschiedliche Gerichte über das Vorliegen und die Tragweite gleichzeitig vorgebrachter Revisions- und Abänderungsgründe äussern müssen, die den gleichen Anspruch (hier: den Unterhalt) betreffen. Allerdings kann allenfalls eines der Verfahren – auf den ersten Blick das Abänderungsverfahren, das schwerlich beurteilt werden kann, wenn die Gefahr besteht, dass der abzuändernde Entscheid zufolge einer Revision schlichtwegs aufgehoben wird – bis zum Entscheid im anderen Verfahren sistiert werden (Art. 126 ZPO). Zudem könnte in Betracht gezogen werden, dass der Appellationshof, falls er die Revision im Grundsatz gutheisst, den früheren Entscheid aufhebt (Art. 332 und 333 Abs. 1 ZPO) und die Sache ans erstinstanzliche Gericht zu neuem Eheschutzmassnahmenentscheid zurückweist, wobei dieses Gericht bei seinem neuen Entscheid auch die die Abänderungsklage begründenden echten Noven berücksichtigen könnte. Diese Möglichkeit einer Rückweisung, die sich aus dem Wortlaut von Art. 333 Abs. 1 ZPO nicht ergibt, findet jedoch in der Lehre nicht überall Zustimmung.

10 Wie dem auch sei: Im vorliegenden Fall wird die unterlegene Beschwerdeführerin ausschliesslich auf dem Wege der Klage auf Abänderung der Eheschutzmassnahmen vorgehen können, wie dies die Vorinstanz vorgeschrieben hatte, welche die Revisionsklage –in Bezug auf die unechten Noven zu Unrecht, was aber ohne Auswirkungen auf ihren Entscheid blieb (N 2) – für unzulässig erklärt hatte. Diesfalls wäre es mit dem auch für die Behörden zwingenden Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 52 ZPO) kaum vereinbar, wenn der Ehefrau in diesem Verfahren entgegengehalten würde, die von ihr vorgebrachten Noven seien nicht (alle) wirklich neu.

Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2019-N16, Rz…

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