(E. II.6.3-II.6.6) Aus der Botschaft ist zu schliessen, dass der Gesetzgeber durch die Aufhebung der Verfahrensbestimmungen im ZGB und deren Überführung in die ZPO keine Änderung der Rechtslage geschaffen werden wollte. Für die Verfahrensart ist daraus abzuleiten, dass Art. 295 ZPO sowohl auf Verfahren betreffend Unterhaltsansprüche minderjähriger Kinder als auch Volljähriger Anwendung findet, da bereits unter bisherigem Recht ein einfaches und rasches Verfahren in allen «Streitigkeiten über die Unterhaltspflicht» gegolten hat [s. Art. 280 aZGB]. Dies entspricht auch dem Sinn und Zweck der Norm. (…) Eine unterschiedliche Behandlung eines entsprechenden Begehrens je nachdem, ob eine Person das 18. Alterjahr bereits zurückgelegt hat oder (noch gerade) nicht, rechtfertigt sich nicht. Daher ist das vereinfachte Verfahren in Verfahren betreffend Unterhaltsansprüche sowohl minder- wie volljähriger Kinder anzuwenden. In diesem Sinne soll zudem in der laufenden ZPO-Revision eine Klarstellung erfolgen. (E. II.6.7) Die Anwendung der Dispositionsmaxime bei selbständigen Unterhaltsklagen Volljähriger (BGer 5A_524/2017 vom 9.10.2017 E. 3.1 m.V. auf BGE 118 II 93) verdient Zustimmung. Denn die Offizialmaxime bei Kinderbelangen des minderjährigen Kindes dient in besonderem Masse dessen Schutz. Minderjährige werden durch Erwachsene vertreten. Zum Schutz des handlungsunfähigen Kindes besteht daher eine gerichtliche oder behördliche Genehmigungspflicht für eine allfällige Vereinbarung (Art. 287 Abs. 1 und 3 ZGB) – dies im Gegensatz zu Vereinbarungen über den Volljährigenunterhalt. Zwischen Art. 287 Abs. 1 bzw. 3 ZGB und Art. 296 Abs. 3 ZPO besteht damit ein gewisser innerer Zusammenhang, während es umgekehrt zu einem inneren Widerspruch führen würde, Unterhaltsklagen Volljähriger dem Offizialgrundsatz zu unterstellen, ohne einen Genehmigungsvorbehalt im Vergleichsfall vorzusehen. Der Anwendungsbereich von Art. 296 Abs. 3 ZPO ist somit im Sinne einer teleologischen Reduktion auf minderjährige Kinder zu reduzieren. (E. II.6.8) Eine klare bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Anwendbarkeit von Art. 296 Abs. 1 ZPO auf den Unterhaltsprozess volljähriger Kinder existiert weder zum alten noch zum aktuellen Recht. Die Lehrmeinungen diesbezüglich gehen auseinander. Der erläuternde Bericht vom 2.3.2018 zur laufenden ZPO-Revision hält fest, die Regelung betreffe nur Klagen von minderjährigen Kindern, da nur sie eines besonderen Schutzes bedürften. Die für das vereinfachte Verfahren geltenden Erleichterungen reichten in Verfahren betreffend Volljährigenunterhalt aus. Zwar ist die Auffassung, dass ein volljähriges Kind nicht denselben weitreichenden prozessualen Schutz benötigt wie ein minderjähriges Kind, nachvollziehbar. Allerdings ist das volljährige Kind mindestens so schutzbedürftig wie ein Mieter in Verfahren, in denen die eingeschränkte Untersuchungsmaxime gelten soll (Art. 243 Abs. 2 i.V.m. Art. 247 Abs. 2 Bst. a ZPO), da diese Prozesse meist kurz nach Erreichen der Volljährigkeit geführt werden müssen. Die Anwendung der Verhandlungsmaxime widerspricht zudem dem Grundgedanken eines sozialen Zivilprozesses, bei dem eine tendenziell unterlegene Partei unterstützt werden soll. Es wäre widersprüchlich, diesen Schutz – anders als dem Ehegatten im Eheschutzverfahren (Art. 272 ZPO) – dem wirtschaftlich unterlegenen Volljährigen zu versagen. Sachgerecht ist folglich die Anwendung der eingeschränkten Untersuchungsmaxime.
2019-N11 Selbständige Unterhaltsklage des mündigen Kindes – Lösungen und Unsicherheiten
Bem. F. Bastons Bulletti
1 Das Urteil ist nicht das erste, in dem die selbständige Unterhaltsklage des mündigen Kindes behandelt wird (vgl. Anm. unter Art. 295, 296 Abs. 1 und 266 Abs. 3, insb. BGer 5A_524/2017 vom 9.10.2017 und OGer/ZH vom 13.3.2018, PC180006-O/U, Bem. M. Heinzmann in Newsletter vom 18.01.2018 und vom 3.05.2018). Auch wenn dieses Urteil nicht dazu beiträgt, eine mangels klarer Rechtsprechung des BGer je nach Kanton unterschiedliche Praxis zu vereinheitlichen, hat es zumindest den Vorteil, sich mit allen der sich in Bezug auf diese Klage stellenden drei Verfahrensfragen zu befassen, nämlich die Frage nach der anwendbaren Verfahrensart sowie jene nach der auf den Entscheid und auf die Feststellung der Tatsachen anwendbaren Maxime.
2 Bezüglich der Verfahrensart stellt sich die Frage, ob die selbständige Klage des mündigen Kindes dem in Art. 295 ZPO vorgesehenen vereinfachten Verfahren unterliegt oder nicht. Die Berner Richter bejahen diese Frage. Diese Lösung ist nicht offensichtlich. Das BGer hat sich dazu nicht klar geäussert (BGE 139 III 368, in dem das vereinfachte Verfahren gemäss Art. 295 ZPO abgelehnt wird, bezieht sich auf die Klage der Verwandten nach Art. 328 f. ZGB); die Zürcher Praxis (zit. OGer/ZH vom 13.3.2018) geht hingegen davon aus, dass das ordentliche Verfahren dann anwendbar ist, wenn die Streitsache keinen Streitwert oder einen Streitwert von mehr als 30’000 Fr. aufweist, was häufig vorkommt. Die hier gewählte Lösung ist überzeugend (vgl. zit. Bem. M. Heinzmann in Newsletter vom 3.05.2018); wie das Oger/BE betont, ist diese Lösung zudem auch im Vorentwurf zur Änderung der ZPO vom 2.3.2018 (im Folgenden: VE ZPO 2018) vorgesehen (vgl. Art. 295 Abs. 2 VE ZPO 2018).
3 Es ist darauf hinzuweisen, dass es im vorliegenden Fall nicht nur um einen ordentlichen Unterhaltsbeitrag, sondern auch um einen ausserordentlichen Unterhaltsbeitrag i.S.v. Art. 286 Abs. 3 ZGB ging. Art. 302 Abs. 1 lit. b ZPO sieht diesbezüglich das Summarverfahren vor. Das OGer scheint – u.E. zu Recht – davon auszugehen, dass diese Bestimmung nur dann anwendbar ist, wenn einzig ein ausserordentlicher Unterhaltsbeitrag verlangt wird; andernfalls unterliegen in einer selbständigen Klage sämtliche Ansprüche dem vereinfachten Verfahren (vgl. auch BSK ZPO-Moret/Steck Art. 302 N 12; ZPO Komm-Schweighauser Art. 302 N 16). Damit kann Art. 90 lit. b ZPO einer Häufung der Ansprüche auf Unterhalt und auf ausserordentlichen Unterhalt nicht entgegenstehen.
4 Bei Kinderbelangen in familienrechtlichen Angelegenheiten ist die Offizialmaxime grundsätzlich anwendbar (Art. 296 Abs. 3 ZPO). Mit Hinweis auf eine unter alten Recht ergangene Rechtsprechung, in dem die Volljährigkeit erst mit der Vollendung des 20. Altersjahrs erreicht wurde (BGE 118 II 93 E. 1a), gehen jedoch das BGer (zit. BGer 5A_524/2017) und mit ihm das OGer/BE davon aus, das es sich dann anders verhält, wenn die selbständige Klage ein mündiges Kind betrifft. Diese Meinung ist diskutabel (vgl. zit. Bem. M. Heinzmann in Newsletter vom 18.1.2018). Allerdings kann man davon nur Vormerk nehmen, wobei zu betonen ist, dass das mündige Kind Art. 296 Abs. 3 ZPO dann noch in Anspruch nehmen kann, wenn seine Mündigkeit im Laufe eines eherechtlichen Verfahrens eintritt, in dem es seinem Elternteil die Befugnis erteilt, ihn im Verfahren weiter zu vertreten (zit. BGer 5A_524/2017 E. 3.2.2), und der im VE ZPO 2018 vorgeschlagene Gesetzestext diesbezüglich keine Präzisierung vornimmt.
5 Auch die Frage nach der bei der Feststellung des Sachverhalts anwendbaren Maxime wird kontrovers diskutiert, zumal diesbezüglich keine klare bundesgerichtliche Rechtsprechung besteht (vgl. zit. BGE 139 III 368 und BGer 5A_524/2017). Während unbestritten ist, dass die Klage betreffend ein unmündiges Kind der strikten Untersuchungsmaxime gemäss Art. 296 Abs. 1 ZPO unterliegt, herrscht bezüglich der Klage des mündigen Kindes Verwirrung: Alle übrigen Masse des Eingreifens des Richters (Verhandlungsmaxime mit oder ohne – im vereinfachten Verfahren anwendbare – verstärkte Fragepflicht nach Art. 247 Abs. 1 ZPO oder einfache Untersuchungsmaxime) werden gleichermassen in Betracht gezogen (vgl. Anm. unter Art. 296 Abs. 1, insb. OGer/ZH vom 5.12.2014 (LZ140010) E. III.2.4 [Verhandlungsmaxime]; KGer/SG vom 29.4.2016 (FO.2015.4) E. 1 [strikte Untersuchungsmaxime]).
6 Zwar darf die Bedeutung dieser Frage insofern nicht überbewertet werden, als das Mass des Eingreifens des Richters bei der Feststellung des Sachverhalts und der Beweisabnahme letztlich mehr von den Umständen des konkreten Falls als von der anwendbaren prozessualen Maxime abhängt (vgl. M. Heinzmann, La procédure simplifiée – Une émanation du procès civil social, Habilitationsschrift Fribourg 2018, S. 201 N 341 und 204 N 344). Dennoch wird die Frage nach der anwendbaren Maxime dann entscheidend, wenn es darum geht, Noven im erstinstanzlichen wie auch im zweitinstanzlichen Verfahren vorzubringen: Unterliegt die Sache der Verhandlungsmaxime – auch mit einer verstärkten Fragepflicht gemäss Art. 247 Abs. 1 ZPO –, wird das Vorbringen von Noven nach zwei Äusserungsrunden, d.h. spätestens nach Beginn der Hauptverhandlung, stark beschränkt (vgl. Anm. unter Art. 229 Abs. 1 und 2, insb. BGE 140 III 312); diese Beschränkung gilt im gleichen Masse auch im Berufungsverfahren (Art. 317 Abs. 1 ZPO), während Noven im Beschwerdeverfahren ausgeschlossen sind (Art. 326 ZPO). Unterliegt die Sache der einfachen (sozialen) Untersuchungsmaxime, können hingegen Noven bis zur Urteilsberatung frei vorgebracht werden (Art. 229 Abs. 3 ZPO); im Berufungsverfahren sind allerdings die sich aus Art. 317 Abs. 1 ZPO ergebenden Einschränkungen anwendbar (BGE 138 III 625 E. 2.2), und im Beschwerdeverfahren sind Noven auch diesfalls ausgeschlossen (Botschaft, 7379 und Anm. unter Art. 326 Abs. 1, A.). Geht man schliesslich davon aus, dass die Klage des mündigen wie jene des unmündigen Kindes der strikten Untersuchungsmaxime unterliegt, können Noven nicht erst bis zur erstinstanzlichen Urteilsberatung (Art. 229 Abs. 3 ZPO), sondern auch im Berufungsverfahren (BGE 144 III 349 E. 4.2.1, Anm. unter Art. 317 Abs. 1, B.a.b.) und sogar im Beschwerdeverfahren (s. BGer 5A_511/2016 vom 9.5.2017 E. 3.2, Anm. unter Art. 326 Abs. 1, C. und Bem. M. Heinzmann in Newsletter vom 8.6.2017) uneingeschränkt vorgebracht werden.
7 Die Berner Richter entschieden sich hier für die Anwendung der einfachen Untersuchungsmaxime, obwohl im erläuternden Bericht zum VE ZPO 2018 – der keine Sonderbestimmung zur im Verfahren betreffend das mündige Kind anwendbaren Prozessmaxime enthält und nur eine reine redaktionelle, auf die französische Fassung begrenzte Änderung von Art. 296 Abs. 1 ZPO vorsieht – « obiter » und ohne Begründung wird festgehalten, die im vereinfachten Verfahren anwendbare – d.h. durch die verstärkte Fragepflicht gemäss Art. 247 Abs. 1 ZPO gemilderte – Verhandlungsmaxime genüge zum Schutz des mündigen Kindes. Obwohl uns die im Urteil gewählte Lösung jedenfalls befriedigender erscheint als jene, die sich aus dem vorerwähnten Bericht ergibt, ist dafür keine Begründung ersichtlich. Zwar ist wünschenswert, dass das (häufig knapp) mündige Kind unterstützt wird, und dieses ist zweifellos eine schwache Partei – zumindest im gleichen Masse wie ein Mieter oder ein Ehegatte, denen in den Verfahren gemäss Art. 247 Abs. 2 oder Art. 272 ZPO die einfache Untersuchungsmaxime und nicht nur die verstärkte richterliche Fragepflicht zugutekommt. Diese Überlegungen rechtfertigen u.E. jedoch nicht, dass man von den gesetzlichen Bestimmungen abweicht (vgl. Art. 55 Abs. 2 ZPO, wonach die Untersuchungsmaxime nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen anwendbar ist), indem ein in Art. 247 Abs. 1 ZPO nicht vorgesehener Anwendungsfall der einfachen Untersuchungsmaxime geschaffen wird. Hingegen ist die Anwendung der strikten Untersuchungsmaxime in Art. 296 Abs. 1 ZPO wohl vorgesehen, wobei nicht danach unterschieden wird, ob das Kind minderjährig oder mündig ist. Soweit davon ausgegangen wird, die strikte Untersuchungsmaxime gemäss Art. 296 Abs. 1 ZPO müsse auch dem – zweifellos mündigen – Unterhaltsschuldner im Prozess gegen das minderjährige Kind zugutekommen (BGE 128 III 411 E. 3.2.1), ist vielmehr nicht einzusehen, weshalb das mündige Kind nicht auch in den Genuss dieser Maxime gelangen könnte, wenn es in einem Prozess seinem Elternteil gegenübersteht und durch den es erreichen will, eine berufliche Erstausbildung machen zu können. Schliesslich besteht das der strikten Untersuchungsmaxime zugrundeliegende öffentliche Interesse nicht nur im Wohl des (minderjährigen) Kindes, sondern auch im Interesse des Gemeinwesens, das wird eingreifen müssen, wenn das mündige Kind im Verfahren gegen seine Eltern seine Ansprüche nicht gehörig geltend machen konnte; diese Hilfe wird in den meisten Fällen à fonds perdu geleistet, da Kinder gemäss vielen kantonalen Gesetzgebungen von der Rückzahlung der vor ihrem 25. Lebensjahr erhaltenen Hilfe dispensiert sind.
8 Wie dem auch sei: Zurzeit ist die selbständige Klage des mündigen Kindes durch Unsicherheiten und Unterschiede in der Behandlung geprägt, die verhängnisvoll sind für ein Verfahren, das einfach und rasch sein müsste. Diese rechtliche Unsicherheit ist umso bedauerlicher, als sie eine schwache Partei in einer Klage beschlägt, die in der Praxis nicht selten ist. Der VE ZPO 2018 liefert wie gesehen Klärungen nur in Bezug auf die anwendbare Verfahrensart. Im Übrigen enthält sein erläuternder Bericht Aussagen, die umso diskutabler sind, als sie sich weder im aktuellen noch im zukünftigen Gesetzestext widerspiegeln. Unter diesen Umständen muss abgewartet werden, bis das BGer Gelegenheit erhält, sich klar insb. zur Anwendung der Untersuchungsmaxime zu äussern. Bis dahin muss der Rechtsanwalt des mündigen Kindes sicherheitshalber eine nach Massgabe von Art. 221 ZPO zulässige Eingabe einreichen, präzise und bezifferte Rechtsbegehren in vermutlicher Anwendung der Dispositionsmaxime (Art. 58 Abs. 1 ZPO) stellen und davon ausgehen, dass seine Behauptungen und Beweisofferten nur im erstinstanzlichen Verfahren, spätestens bis zu den ersten Parteivorträgen (Art. 229 Abs. 1 und 2 ZPO), frei ergänzt werden können.
Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2019-N11, Rz…