Zustellung eines kurz begründeten Dispositivs: Vorteile, Risiken und Lösungen

BGer 5A_1049/2020 vom 28.5.20121 E. 3.3.4

Art. 239 Abs. 1 und 2, Art. 311 Abs. 1 und 321 Abs. 1 - ZUSTELLUNG DES DISPOSITIVS EINES ENTSCHEIDS MIT EINER KURZBEGRÜNDUNG – UNZULÄSSIGKEIT DES VERFRÜHT EINGEREICHTEN RECHTSMITTELS – VERZICHT AUF DAS RECHTSMITTEL

Gemäss Art. 239 Abs. 1 lit. b ZPO kann das Gericht seinen Entscheid ohne schriftliche Begründung durch Zustellung des Dispositivs an die Parteien eröffnen. In der Praxis kommt es dennoch oft zu Kurzbegründungen. Die Frage, ob das Obergericht auf eine Beschwerde auf Basis einer faktisch vorhandenen Kurzbegründung eintreten muss, darf willkürfrei verneint werden (so z.B. auch KGer/SG vom 3.10.2013 [BE.2013.43], GVP 2013 Nr. 61), da ein Eintreten eine Verletzung des rechtlichen Gehörs zur Folge hätte, das voraussetzt, dass die Begründung eines behördlichen Entscheids so abgefasst sein muss, dass sich die betroffene Person über dessen Tragweite Rechenschaft geben und ihn in voller Kenntnis der Sache anfechten kann (BGE 134 I 83 E. 4.1; 133 III 439 E. 3.3). Eine Ausnahme gebietet sich im vorliegenden Fall nicht, da die Kurzbegründung derart kurz war, dass man offensichtlich eine Begründung hätte verlangen müssen. Verlangt man keine Begründung, gilt dies grundsätzlich als Verzicht auf die Anfechtung (Art. 239 Abs. 2 ZPO). Eine Willkür in der Rechtsanwendung ist bei Annahme dieser gesetzlichen Rechtsfolge zu verneinen, unabhängig davon, ob man die Auffassung vertritt, dass die Beschwerde an das Obergericht in diesem Fall als Aufforderung zur Begründung entgegenzunehmen und an das Gericht weiterzuleiten ist (vgl. z.B. KGer/SG vom 3.10.2013). Es kommt hinzu, dass der äussere Aufbau des Entscheids die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin nicht zur Annahme berechtigen konnte, es liege bereits der schriftlich begründete Entscheid vor, seit dessen Zustellung die Rechtsmittelfristen zu laufen beginnen (Art. 311 Abs. 1 und Art. 321 Abs. 1 ZPO). Die “Kurzbegründung” ist dem Entscheid nach der Unterschrift des Gerichts angeheftet, steht insoweit ausserhalb des förmlichen Entscheids (vgl. Art. 238 ZPO) und hat damit lediglich informativen Charakter.

2021-N15 Zustellung eines kurz begründeten Dispositivs: Vorteile, Risiken und Lösungen
Bem. F. Bastons Bulletti

1 In einem Entscheid über Eheschutzmassnahmen werden insb. Kindesschutzmassnahmen angeordnet. Die mit dem Vollzug dieses Entscheids betraute Kindesschutzbehörde (KESB), stellt ihrerseits den Ehegatten einen Entscheid zu. Dieser enthält den Hinweis, dass die Parteien innert zehn Tagen seit Zustellung des Dispositivs eine schriftliche Begründung verlangen können und dass es als Verzicht auf die Anfechtung des Entscheids gelte, wenn keine Begründung verlangt werde. Innert zehn Tagen nach dieser Zustellung reicht die anwaltlich vertretene Ehefrau eine Beschwerde ein. Das Obergericht erklärt diese Beschwerde für unzulässig, mit der Begründung, Beschwerde könne nur gegen einen begründeten Entscheid, nicht aber gegen einen bloss im Dispositiv eröffneten Entscheid erhoben werden. In ihrer Beschwerde ans BGer bringt die Ehefrau vor, der Entscheid sei begründet gewesen, da das zugestellte Dispositiv eine Kurzbegründung enthalten habe, und dass der Hinweis auf die Möglichkeit, eine schriftliche Begründung zu verlangen, für ihren Anwalt nicht bindend gewesen sei (vgl. E. 3.3.1 und 3.3.2 des Urteils). Das BGer weist die Beschwerde ab.

2 Aus Art. 239 ZPO geht hervor, dass ein Entscheid auf drei Arten eröffnet werden kann: Entweder bereits in der Hauptverhandlung, durch Übergabe des schriftlichen Dispositivs, ohne schriftliche Begründung, aber mit kurzer mündlicher Begründung (Art. 239 Abs. 1 lit. a ZPO); oder durch Zustellung (gemäss Art. 138–141 ZPO) des schriftlichen Dispositivs, ohne schriftliche Begründung (Art. 239 Abs. 1 lit. b ZPO); oder durch Zustellung des von vornherein schriftlich begründeten, vollständigen Entscheids (Art. 238 lit. g ZPO; Art. 239 Abs. 1 e contrario ZPO). In den ersten beiden Fällen wird eine schriftliche Begründung nur zugestellt, wenn sie innert zehn Tagen seit der Eröffnung des Entscheides verlangt wird (Art. 239 Abs. 2 ZPO).

3 Der vorliegende Fall betrifft die Praxis (deren Zulässigkeit nicht Gegenstand des Urteils war, in der Lehre aber bejaht wird, vgl. Sarbach/Minnig, Dispositiveröffnung mit zusätzlicher schriftlicher Begründung? AJP 2020, 161 ff.) gewisser Gerichte, die nach zweiter Eröffnungsart (Art. 239 Abs. 1 lit. b ZPO) vorgehen, indem sie das schriftliche Dispositiv ohne vollständige Begründung, aber dennoch mit einer Kurzbegründung zustellen. Diese gesetzlich nicht vorgesehene, hybride Praxis ist durch die Verfahrensökonomie gerechtfertigt: Durch die Orientierung der Parteien erleichtert sie ihnen die Entscheidung, ob sie die vollständige Begründung gemäss Art. 239 Abs. 2 ZPO verlangen oder nicht, und reduziert damit die Zahl der Anträge auf schriftliche Begründung (vgl. Sarbach/Minnig, op. cit.).

4 Der dem Dispositiv beigefügte Anschein einer Begründung ist nicht als vollständige Begründung gedacht, sondern hat lediglich informativen Charakter. Zudem genügt er in der Regel nicht den aus dem rechtlichen Gehör abgeleiteten Anforderungen an eine Begründung (vgl. Anm. unter Art. 53, D., z.B. BGE 142 III 433 E. 4.3.2), wonach ein Entscheid nur dann hinreichend begründet ist, wenn sich der Betroffene über dessen Tragweite Rechenschaft geben und ihn in voller Kenntnis der Sache anfechten kann.

5 Dennoch kann ein mit einem lapidar begründeten Entscheid konfrontierter Adressat an der Rechtsnatur des zugestellten Akts – blosses Dispositiv mit Kurzbegründung, oder von vornherein vollständig begründeter Entscheid – Zweifel haben. Ein Irrtum darüber, ob eine vollständige Begründung vorliegt oder nicht, ist oft mit schwerwiegenden Folgen verbunden:

5a – glaubt eine Partei, es liege ein kurz begründeter Entscheid vor, während das Gericht in Wirklichkeit einen vollständig begründeten Entscheid eröffnet hat, so folgt in der Regel daraus der Verlust jeder Anfechtungsmöglichkeit. Beantragt diese Partei die vollständige schriftliche Begründung, so wird ihr Antrag abgewiesen, da ihr nach Auffassung des Gerichts diese Begründung bereits zugestellt worden ist. Im Zeitpunkt, in dem die Partei von dieser Abweisung Kenntnis erlangt, ist jedoch die Rechtsmittelfrist in der Regel verstrichen, insb. dann, wenn diese nur zehn Tage betrug (Rechtsmittel gegen einen im Summarverfahren ergangenen Entscheid oder gegen eine prozessleitende Verfügung, vgl. Art. 314 Abs. 1 und 321 Abs. 2 ZPO). Ausser wenn die Partei eine Wiederherstellung der Berufungsfrist (Art. 148 ZPO) erwirken kann – was voraussetzt, dass sie glaubhaft macht, dass sie und ihren Vertreter kein oder nur ein leichtes Verschulden trifft –, hat sie das Rechtsmittel verwirkt;

5b – glaubt der Betroffene zu Unrecht, er habe einen vollständig begründeten Entscheid erhalten, und reicht er direkt ein Rechtsmittel ein, ist seine Situation nicht vorteilhafter: Da nur eine ausreichende Begründung eine wirksame Anfechtung des Entscheids ermöglicht (vgl. N 4 oben), beginnen die gesetzlichen Berufungs- oder Beschwerdefristen (erst) mit der Zustellung des begründeten Entscheids i.S.v. Art. 239 Abs. 2 ZPO zu laufen (vgl. Art. 311 Abs. 1 und 321 Abs. 1 ZPO; s. auch BGer 4A_128/2017 vom 12.5.2017 E. 5.5, Anm. unter Art. 311, B.). Folglich ist ein gegen einen nicht (vollständig) begründeten Entscheid – sei es als blosses Dispositiv oder als ein kurz begründetes Dispositiv – eingereichtes Rechtsmittel unzulässig (vgl. im gleichen Sinn KGer/SG vom 3.10.2013 (BE.2013.43) E. II.2, Anm. unter Art. 239 Abs. 2). Vielmehr hält das BGer fest (E. 3.3.4 des Urteils), es sei nicht willkürlich, wenn die zehntägige Frist gemäss Art. 239 Abs. 2 ZPO in der Zwischenzeit unbenutzt abgelaufen ist – was häufig der Fall ist –, daraus zusätzlich den Verlust des Rechtsmittels abzuleiten. Denn gemäss Art. 239 Abs. 2 i.f. ZPO gilt (im Sinn einer Fiktion, vgl. PC CPC-Heinzmann/Braidi Art. 239 N 12; auch CJ/GE vom 09.02.2012 [ACJC/159/2012], Anm. unter Art. 239 Abs. 2) das Fehlen eines rechtzeitigen Antrags um schriftliche Begründung als Verzicht auf die Anfechtung des Entscheides mit Berufung oder Beschwerde. Diese letztere Rechtsfolge ist jedoch nicht unausweichlich:

5ba — einerseits, hat die Gegenpartei die Begründung rechtzeitig verlangt, kommt dieser Antrag auch ihrem Gegner zugute (vgl. PC CPC-Heinzmann/Braidi Art. 239 N 12 m.H.). So kann u.E. jener, der direkt Beschwerde eingereicht hat, anstatt die schriftliche Begründung zu beantragen, der aber dennoch den vollständig begründeten Entscheid erhält, noch Berufung oder Beschwerde einreichen, solange die durch diese Zustellung ausgelöste Frist noch nicht geendet hat; auch die Unzulässigkeit seiner ersten Beschwerde hindert ihn nicht daran, da ein Nichteintretensentscheid keine materielle Rechtskraft entfaltet.

5bb — Andererseits, auch wenn man nach Ansicht des BGer ohne Willkür von einem Rechtsmittelverzicht ausgehen kann, wenn die Partei, statt rechtzeitig die Begründung zu verlangen, direkt ein Rechtsmittel gegen das Dispositiv eingereicht hat, ist eine andere Lösung vertretbar und (u.E.) sogar vorzuziehen. Denn die Handlungen der Parteien sind nach den Regeln von Treu und Glauben auszulegen (Vertrauensgrundsatz, vgl. auch Bem. unten, 2021-N16 Nr. 6). Wie das Kantonsgericht St. Gallen (zit. KGer/SG, E. II.3) entschieden hat, bringt eine Partei, die ein verfrühtes Rechtsmittel einreicht, unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie den Entscheid anfechten will, sodass ihre Eingabe nach Treu und Glauben als Begründungsantrag i.S.v. Art. 239 Abs. 2 ZPO und nicht als Rechtsmittelverzicht anzusehen ist. Obwohl dieser Antrag nicht an den erstinstanzlichen Richter gerichtet wird, ist er zulässig, sofern er innert zehn Tagen nach Zustellung des Dispositivs gestellt wird. Denn nach einem allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der in Art. 48 Abs. 3 BGG zum Ausdruck kommt, gilt die Frist als gewahrt, wenn die Eingabe rechtzeitig bei einer unzuständigen Behörde eingereicht worden ist; diese muss die Eingabe von Amtes wegen der zuständigen Behörde übermitteln. Nun ist dieser Grundsatz, der darauf abzielt, übermässige Formalitäten zu vermeiden (und der gemäss Art. 143 Abs. 1bis des Entwurfs zur Änderung der ZPO in der ZPO verankert werden soll, vgl. BBl 2020, 2788), jedenfalls auf die Rechtsmittelfristen der ZPO anwendbar, zumindest dann, wenn die Eingabe zu Unrecht an den iudex a quo gerichtet ist (vgl. BGE 140 III 636 E. 3, 3.5–3.7, Anm. unter Art. 63 Abs. 1, A.b. und in Newsletter vom 28.1.2015). Das Verbot des überspitzten Formalismus gebietet es u.E., diesen Grundsatz auch dann sinngemäss anzuwenden, wenn es sich bei der unrichtig adressierten Eingabe um einen Begründungsantrag im Vorfeld eines Rechtsmittels handelt (vgl. auch KGer/SG a.a.O.), zumal in diesem Fall die zuständige Behörde sehr leicht ermittelbar ist, sodass der Zeit- und Kostenverlust minimal ist. Auch die Strenge, die im Bereich der Formerfordernisse gegenüber Rechtsanwälten (deren Vorkehrungen und Unterlassungen ihren Mandanten zuzurechnen sind, vgl. insb. BGer 5A_350/2021 vom 17.5.2021 E. 4, Anm. unter Art. 68, Allgemeines) herrscht, steht dem nicht entgegen: Einerseits müssen die Umsetzung des materiellen Rechts und die verfassungsrechtliche Rechtsweggarantie Vorrang vor der strikten Einhaltung der Formvorschriften haben. Andererseits wird kein höheres Interesse berührt, wenn die Rechtsmitteleingabe als Begründungsantrag berücksichtigt und von Amtes wegen ans erstinstanzliche Gericht übermittelt wird: Da diese Übermittlung voraussetzt, dass die Frist nach Art. 239 Abs. 2 ZPO eingehalten wurde, wird das Verfahren kaum verzögert, und die berechtigten Interessen der Gegenpartei werden nicht verletzt, zumal auch sie den begründeten Entscheid, der ihr ebenfalls zugestellt wird, mit Rechtsmittel anfechten kann (s. oben N 5ba).

6 Im Übrigen ist das Fehlerrisiko zu relativieren: Zwar kann es mitunter für den Adressaten und seinen Anwalt heikel sein, festzustellen, ob das Gericht ihm ein blosses Dispositiv mit einer Kurzbegründung oder einen vollständigen, direkt begründeten Entscheid eröffnet hat. Allerdings muss die Rechtsmittelbelehrung, die der Entscheid zwingend zu enthalten hat (Art. 238 lit. f ZPO) und die an den Einzelfall angepasst sein muss (BGer 4A_475/2018 vom 12.9.2019 E. 5.1–5.2 n.v. in BGE 145 III 469, Anm. unter Art. 238 lit. f, 1. und in Newsletter 2019-N26, Nr. 4), die in dieser Hinsicht notwendigen Angaben liefern. Nach Lehre und Rechtsprechung (KGer/SG vom 17.10.2011 (BE.2011.42) E. III, Anm. unter Art. 239 Abs. 1, 1.; PC CPC-Heinzmann/Braidi Art. 238 N 17; Sarbach/Minnig, op. cit., II.) ist in einem nicht (vollständig) begründeten Entscheid auf das Recht hinzuweisen, die schriftliche Begründung innert zehn Tagen zu verlangen (Art. 239 Abs. 2 ZPO), und zu präzisieren, dass ein Unterlassen als Verzicht auf die Anfechtung des Entscheides mit einem Rechtsmittel gilt (Art. 239 Abs. 2, 2. Satz ZPO). So kann der Betroffene, der Zweifel an der Rechtsnatur des zugestellten Entscheids hat, einfach prüfen, ob dieser einen solchen Hinweis enthält. Ist dies der Fall, muss er daraus schliessen, dass der Entscheid nicht vollständig begründet ist und er innert zehn Tagen die schriftliche Begründung verlangen muss, bevor er ein Rechtsmittel einreichen kann. Fehlt hingegen ein solcher Hinweis, muss er davon ausgehen, dass der Entscheid vollständig begründet ist und folglich die Berufungs- oder Beschwerdefrist bereits zu laufen begonnen hat (Art. 311 Abs. 1 und Art. 321 Abs. 1 ZPO); erachtet er in diesem Fall den Entscheid als ungenügend begründet, muss er dies in dieser Berufung oder Beschwerde rügen und sich dabei auf eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs berufen (Art. 53 ZPO; ist der Mangel offensichtlich, kann er sogar von Amtes wegen und ohne Rüge berücksichtigt werden, vgl. BGE 142 III 413 E. 2.2.4, Anm. unter Art. 311, A.b.b.). Im umgekehrten Fall, dass in einem mit einer offenbar vollständigen Begründung versehenen Dispositiv auf Art. 239 ZPO hingewiesen wird, kann aber die Partei, die irrtümlich geglaubt hat, es handle sich dabei um einen bereits begründeten und damit unmittelbar anfechtbaren Entscheid, nicht den Schutz seines Vertrauens anrufen, nur weil das Dispositiv mit einer scheinbaren Begründung versehen war, und verlangen, dass auf sein Rechtsmittel eingetreten wird. Ebenso muss die Partei, wenn im Dispositiv Art. 239 ZPO nicht erwähnt wird, den Entscheid auch dann unmittelbar mit einem Rechtsmittel anfechten, wenn er diesen Entscheid für ungenügend begründet hält; in diesem Rahmen kann er eine Verletzung seines Rechts auf einen begründeten Entscheid rügen (Art. 53 ZPO, vgl. Anm. unter Art. 53 Abs. 1, D).

7 Zwar kann die Rechtsmittelbelehrung unrichtig oder ungenau sein. In diesem Fall ist u.E. davon auszugehen, dass das Vertrauen des Adressaten in den angegebenen Hinweis vollständig geschützt werden muss, auch wenn dieser durch einen Rechtsanwalt vertreten ist, der grundsätzlich höheren Sorgfaltspflichten unterliegt (vgl. Anm. unter Art. 52, C.c., insb. BGE 138 I 49 E. 8.3.2 und 8.4 und BGE 141 III 270 E. 3.3). Denn diesfalls weiss nur das Gericht, ob es von vornherein ein blosses Dispositiv mit Kurzbegründung oder einen vollständig begründeten Entscheid zustellen wollte. Der Rechtsanwalt kann aus der Lektüre der gesetzlichen Bestimmungen nichts ableiten, die nur die Zustellung eines (völlig) unbegründeten Dispositivs oder – e contrario – eines vollständig begründeten Dispositivs vorsehen. Ihm kann daher keine grobe Nachlässigkeit vorgeworfen werden, wenn er lediglich prüft, ob das Gericht in der Rechtsmittelbelehrung auf Art. 239 Abs. 2 ZPO hingewiesen hat oder nicht. Zudem kann von ihm u.E. auch nicht verlangt werden, in bestimmten unklaren Situationen Vermutungen anzustellen. Wird z.B. im zugestellten Entscheid, obwohl er vollständig begründet (und damit sofort anfechtbar) erscheint, auf die Möglichkeit hingewiesen, gemäss Art. 239 Abs. 2 ZPO eine Begründung zu verlangen, kann dem Anwalt, der eine schriftliche Begründung beantragt, diese nicht deshalb verweigert werden, weil er sie «offensichtlich» bereits erhalten hätte, noch kann ihm dann die verspätete Einreichung eines Rechtsmittels entgegengehalten werden. Enthält hingegen das Dispositiv keinen Hinweis auf Art. 239 Abs. 2 ZPO, so ist der Rechtsanwalt berechtigt, direkt ein Rechtsmittel einzulegen, es sei denn, das zugestellte Dispositiv enthielte gar keine Begründung. Diese Berufung oder Beschwerde kann nicht etwa mit der Begründung für unzulässig erklärt werden, das Dispositiv sei mit einer zu kurzen und/oder nach der Unterschrift des Gerichts figurierende Begründung versehen worden, sodass ihm hätte klar sein müssen, dass es sich nicht um eine schriftliche Begründung i.S.v. Art. 239 ZPO handelte und er trotzdem eine vollständige Begründung hätte verlangen müssen; erweist sich der Entscheid als unzureichend begründet, ist vielmehr die Beschwerde wegen Verletzung des Anspruchs auf Begründung des Entscheids gutzuheissen, der Entscheid aufzuheben und die Sache grundsätzlich ans erstinstanzliche Gericht zurückzuweisen (vgl. Anm. unter Art. 53 Abs. 1, E.).

8 Die Gefahr einer Verwechslung ist indes ausgeprägter, wenn es sich beim fraglichen Entscheid um eine prozessleitende Verfügung handelt, für die die Pflicht zur Begründung und die analoge Anwendung von Art. 239 ZPO nach wie vor unsicher und umstritten ist (vgl. BGer 4A_128/2017 vom 12.5.2017 E. 5.4–5.5 f., Anm. unter Art. 239 Abs. 2, 1.; auch PC CPC-Heinzmann/Braidi Art. 239 N 3 m.H.). In diesem Fall ist u.E. vom Gericht zu verlangen, wenn es eine kurz begründete Verfügung zustellt, dass es darin klar angibt, ob diese als Begründung i.S.v. von Art. 239 Abs. 2 ZPO aufzufassen ist; fehlt dieser Hinweis, sind der Partei, die sich bezüglich des Willens des Gerichts getäuscht hat, keinerlei Nachteile aufzuerlegen, unter Vorbehalt eines offensichtlichen Rechtsmissbrauchs.

9 In jedem Fall sollte das vorliegende Urteil die Parteien und insb. ihre Rechtsvertreter dazu bewegen, Vorsicht walten zu lassen: Bei der Zustellung eines knapp begründeten Entscheids obliegt es ihnen, zunächst die Rechtsmittelbelehrung sorgfältig zu prüfen und ihr Folge zu leisten (oben N 6-7). Haben sie immer noch den Verdacht eines Irrtums des Gerichts, und können sie keine rechtzeitige Klärung erhalten, sind sie gut beraten, innert Frist gemäss Art. 239 Abs. 2 ZPO eine schriftliche Begründung beim erstinstanzlichen Gericht zu verlangen und darüber hinaus innert einer ab der Zustellung des fraglichen Dispositivs gerechneten Frist ein Rechtsmittel einzureichen, in dem sie ihre Zweifel darlegen, das Obergericht um Sistierung des Verfahrens bis zum Entscheid über ihren Antrag auf schriftliche Begründung ersuchen und sich eine eventuelle Ergänzung der Rechtsmitteleingabe für den Fall vorbehalten, dass nachträglich eine vollständige schriftliche Begründung zugestellt wird.

Zitationsvorschlag:
F. Bastons Bulletti in Newsletter ZPO Online 2021-N15, Rz…

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